Der Streit um
die Aufklärung an Grundschulen spitzt sich zu, wenn Eltern nicht
einbezogen werden. Denn es sind sehr eindeutige Lehrmaterialien im
Umlauf, die in Punkto Sexualität nichts auslassen.
Als ihr zehnjähriger Sohn zum ersten Mal über den
Sexualkundeunterricht erzählte, da wunderte sich seine Mutter ein wenig.
Er habe gelernt, dass Frauen "da unten bluten", sagte der
Viertklässler. Einen Tag später kannte er bereits Kondome und vier
Bezeichnungen für das weibliche Geschlechtsteil.
Schockiert war die junge Frau aber erst am dritten Tag:
Da berichtete das Kind etwas verwirrt, er wisse jetzt, wie sich Lesben
befriedigen und dass sie sich dabei "mit der Zunge lecken" würden.
"Ich dachte, ich sei im falschen Film", beschreibt die
Mutter aus Baden-Württemberg in einem Familienforum im Internet ihr
Entsetzen: "Wozu muss ein 10-Jähriger solches Wissen haben? Dieses Thema
gehört nicht in den Sexualkundeunterricht." Als mehrere Eltern sich
beschwerten, entschied der Direktor der Schule, die betreffenden
Lehrerin nicht mehr im Sexualkundeunterricht einzusetzen.
Die Pädagogin selbst zeigte sich uneinsichtig. Sie sehe
keinen Bedarf für einen Elternabend, um über den Vorfall zu sprechen,
teilte sie den empörten Eltern mit. Bei den Kindern war der Schaden
schon angerichtet. Im Forum berichtet die Mutter, ein Klassenkamerad
ihres Sohnes habe nach dem Unterricht erklärt, er wolle nie mit einer
Frau etwas haben.
Geschlechtsakt detailliert beschrieben
Wie weit sollte Sexualerziehung an Schulen gehen? Um
dieses Thema gibt es immer wieder Streit. Vor einigen Tagen hatte ein
Vorfall an einer Grundschule in Berlin-Kreuzberg für Aufregung gesorgt.
Eltern hatten sich beschwert, weil in einer Klasse schon bei den
Erstklässlern ein sehr explizites Aufklärungsbuch zum Einsatz kommen
sollte. In "Wo kommst du her?" werden nicht nur erigierte Penisse
gezeigt, sondern auch der Geschlechtsakt detailliert beschrieben.
"Wenn es so schön ist, dass es schöner nicht mehr werden
kann, haben Lisa und Lars einen Orgasmus", heißt es in dem ab fünf
Jahren und von Pro Familie empfohlenen Werk. "Das ist schön kribbelig
und warm in der Scheide und am Penis." Das ging den Eltern zu weit. Doch
bei der Lehrerin fanden sie nach eigenen Angaben kein Gehör. Erst als
die Berliner Tageszeitung B.Z. berichtete, wurde auch die Schulleitung
aufmerksam.
Früh, aber kindgerecht beginnen
Kritisch sieht die Berliner Bundestagsabgeordnete Monika
Grütters (CDU) den Fall. Zwar könne sie sich über die Details des Falls
kein Urteil erlauben, sagte Grütters der "Welt": "Ich warne aber vor
einem unnötigen Übereifer. Die Eltern selbst müssen entscheiden, wann
sie ihre Kinder mit welchen Themen konfrontieren."
Gerade in Berlin gebe es genügend Möglichkeiten, die
Kinder "selbstverständlich" aufzuklären: "Das muss ihnen nicht von der
Schule in einem Alter aufgedrängt werden, in dem sie die Fragen
vielleicht noch gar nicht stellen. So viel Vertrauen in die Familie muss
sein."
Die familienpolitische Sprecherin der Grünen im
Bundestag, Katja Dörner, findet es wichtig, "schon früh, aber
kindgerecht mit der Sexualerziehung zu beginnen". "Sexualkundeunterricht
findet dort seine Grenze, wo er nicht mehr altersgerecht ist und nicht
mehr in erster Linie die Fragen beantwortet, die Kinder stellen, sondern
stattdessen zu viele weitere Fragen aufwirft", sagt die
familienpolitische Sprecherin der Unionsfraktion im Bundestag, Dorothee
Bär (CSU), der "Welt": "Sexualkundeunterricht sollte die Entwicklung der
Kinder begleiten, aber nicht noch beschleunigen."
Die betroffene Grundschule will sich zu dem Fall nicht
äußern. Bei der zuständigen Senatsverwaltung wird erst auf mehrfache
Nachfrage eingeräumt, dass das Buch an der Schule vorhanden ist. Es sei
"jedoch nicht zugänglich für die Kinder". Der Senat habe in der
Vergangenheit auch noch keine Beschwerden über den Sexualkundeunterricht
in Berlin bekommen.
"Nivellierung von unterschiedlichen Lebensformen"
Diese Aussage mutet seltsam an. Denn vor zwei Jahren
sorgte ein Medienkoffer zur "sexuellen Vielfalt", den der Berliner
Schulsenat als Infomaterial für Grundschulen präsentiert hatte, für
Aufregung. In den Büchern des Koffers wurden auch schwule "Königspaare"
und Transsexualität thematisiert. In einer zusätzlichen Handreichung für
Lehrer fand sich Material, um Siebtklässler zu pantomimischen
Rollenspielen rund um die Begriffe "Orgasmus", "Porno" und "Sado-Maso"
zu ermutigen.
Kirchen und Verbände kritisierten das Material
als "ungefragte Sexualisierung von Kindern" und "Nivellierung von
unterschiedlichen Lebensformen". Der Medienkoffer ist trotz der Proteste
bis heute verfügbar und kann von Lehrern angefordert werden. Die
Nachfrage sei aber "äußert gering", heißt es in der Senatsverwaltung.
Sexualerziehung ist ein heikles Thema. Bis Ende der
sechziger Jahre blieb sie den Familien überlassen. Aufklärung war
Privatsache. Die 68er trieben die Enttabuisierung ins Extrem. Thesen wie
die des Sexualforschers Wilhelm Reich (1897-1957), die Unterdrückung
von Sexualität sei der Ursprung autoritärer Gesellschaften, führten
dazu, dass auch die Sexualerziehung von Kindern zur tabulosen Zone
erklärt wurde – bis hin zur Tolerierung von Pädophilie in bestimmten
Gesellschaftskreisen.
Auch die Institutionen reagierten auf die Entwicklung.
Am 3. Oktober 1968 beschloss die Kultusministerkonferenz die
"Empfehlungen zur Sexualerziehung in den Schulen". Nun sollten auch die
Lehrer an den Schulen Aufklärung betreiben, das Thema wurde in den
Lehrplan aufgenommen. Das Problem: Die meisten Pädagogen waren darauf
weder vorbereitet noch dafür ausgebildet.
Eltern müssen über Unterrichtsinhalte informiert werden
Eltern, kirchliche Verbände und andere Organisationen
reagierten mit Protesten. 1977 entschied das Bundesverfassungsgericht,
die schulische Sexualerziehung habe sich auf die Wissensvermittlung zu
beschränken und müsse auf die "religiösen und weltanschaulichen
Überzeugungen" der Eltern Rücksicht nehmen.
Dies vorausgesetzt, sei keine besondere Zustimmung zum
Unterricht notwendig. Allerdings müssten Eltern rechtzeitig über Inhalt
und Methodik des Unterrichts informiert werden. Die Entscheidung über
die Einführung der Sexualerziehung sei dabei Ländersache.
Dies ist bis heute so und führt dazu, dass die
Sexualerziehung von Bundesland zu Bundesland, manchmal sogar von Schule
zu Schule, verschieden ist. Sehr konkrete Vorgaben gibt es in Bayern:
Erst- und Zweitklässer sollen die Unterschiede zwischen Männern und
Frauen kennenlernen sowie sich gegen unangenehme Berührungen behaupten
können (Prävention von sexuellem Missbrauch).
Erst ab Jahrgangsstufe Fünf geht es um "die Entstehung
von menschlichem Leben". Die Eltern werden bei den
Klassenelternversammlungen informiert; auf Wunsch können auch
Extra-Infoabende einberufen werden.
"Auf die bildliche und schriftliche Darstellung von
Unterrichtsinhalten durch die Schüler" sei in der Grundschule zu
verzichten, heißt es in den "Richtlinien für die Familien- und
Sexualerziehung in den bayerische Schulen". Die stammen von 2002 und
werden derzeit überarbeitet. Die neuen Richtlinien sollen Ende des
Jahres in Kraft treten und dann auch das Thema "queere Lebensformen"
beinhalten.
"Starre Bilder" sollen hinterfragt werden
Auch in Berlin sollen Grundschüler der ersten und
zweiten Klasse zunächst Körperteile und Geschlechtsmerkmale benennen,
über Rollenverhalten reflektieren und über den eigenen Körper selbst
bestimmen lernen. Bereits in Klasse 3 und 4 geht es dann um Zeugung und
Geburt sowie hetero- und homosexuelle "Lebensweisen".
Im Vergleich zu Bayern heißt es über die Einbindung der
Eltern in den Richtlinien relativ vage, diese hätten das Recht, "konkret
über die geltenden Richtlinien, die Inhalte und Methoden der
Sexualerziehung in der Schule informiert zu werden".
Dies "könne" durch Elternabend oder ergänzende
Veranstaltungen geschehen. Ein längerer Passus ist dem Problem gewidmet,
dass Eltern mit Migrationshintergrund der schulischen Sexualerziehung
oft sehr ablehnend gegenüberstehen. Ebenfalls länger fällt das Kapitel
ist den zu den "gleichgeschlechtlichen Lebensformen" in den Richtlinien
aus. "Starre Bilder" von Männlichkeit und Weiblichkeit seien zu
hinterfragen; die Toleranz für andere Lebensformen solle durch die
schulische Erziehung gefördert werden.
In Nordrhein-Westfalen wird die konkrete Ausgestaltung
der Sexualerziehung weitgehend den Schulen überlassen. Schwerpunkt der
Sexualerziehung ist die Sekundarstufe 1, in der Primarstufe sollen "in
altersgerechter, ihrem Verständnis angemessener Form" Themen wie
"Geschlechterrollen" und "Körper und Sexualität" behandelt werden.
Eltern sollen "zeitig" über Form und Inhalt des
Unterrichts informiert werden, da dies für den "Erfolg schulischer
Sexualerziehung" ausschlaggebend sei. Der Einsatz von "schockierenden
oder stimulierenden Darstellungen" im Unterricht sei nicht geeignet. Im
Zweifel müssten sich die Lehrer vorher die Zustimmung der Eltern
einholen.
Die neuen Bücher sind weniger explizit
Probleme, das zeigen die Fälle der Vergangenheit, gibt
es immer dann, wenn die Eltern nicht ausreichend informiert waren. Das
in Berlin umstrittene Aufklärungsbuch "Wo kommst du her?", das 1991
erstmals veröffentlicht wurde, zählte lange zu den best verkauftesten
Schultiteln des Loewe Verlags zum Thema Aufklärung. Probleme gibt es
erst in jüngerer Zeit. So kam es in der Schweiz im vergangenen Jahr zu
landesweiten Protesten, als im Kanton Basel-Stadt an Primarschulen und
Kindergärten "Sexkoffer" verteilt wurden.
Zum Inhalt gehörten neben Plüschvaginas und Holzpenisse
auch das Buch "Wo kommst du her?". Inzwischen wird es nicht mehr neu
aufgelegt. "Unsere neuen Bücher sind weniger explizit", sagt Jeannette
Hammerschmidt, Pressesprecherin des Loewe Verlags.
Beim Verlag führt man das auch auf eine "veränderte Kultur" in Sachen
Sexualerziehung zurück: "Deutschland hat sich da stärker an
amerikanische Verhältnisse angeglichen."
Liberalität wird kritischer betrachtet
Ähnlich sieht es Konrad Weller, Professor für
Sexualwissenschaft an der Fachhochschule Merseburg. "Der Diskurs über
sexuelle Gewalt in den vergangenen Jahren hat dazu geführt, dass die
seit den 70er Jahren herrschende Liberalität kritischer betrachtet
wird", sagt Weller. Hauptinstanz bei der Aufklärung sei immer noch das
Elternhaus.
Allerdings werde die Schule in Zeiten des Internets, das
dazu führt, dass schon Kinder Pornofilmchen konsumieren, immer
wichtiger. Seinen Studenten schärft Weller ein, dass sie es bei der
Sexualerziehung mit drei Zielgruppen zu tun haben: den Kindern, ihren
Eltern und den Lehrern. "Wenn dieses Dreieck nicht funktioniert, wird
das Projekt scheitern."
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen