Aus diesem Grund misstraue ich ein wenig der üblichen Darstellung vom Klimawandel, der zufolge eine Reduktion von CO2
und anderen Treibhausgasen die höchste Priorität in Sachen Umwelt hat.
Diese Darstellung bietet sich zu leicht für zentralisierte Lösungen und
das Denken an, dass man nur eine bestimmte Größe maximieren (oder
minimieren) müsse. Sie unterwirft all die kleinen lokalen Dinge, die
notwendig sind, um die Welt schöner zu machen, einem einzigen Anliegen,
für das alles andere geopfert werden muss. Das ist die Kriegsmentalität:
ein einzig wichtiges Endziel bringt alle Bedenken über die angewendeten
Mittel zum Schweigen und rechtfertigt jedes Opfer. Wir als Gesellschaft
sind süchtig nach dieser Denkweise; deshalb wurde der Kalte Krieg vom
Krieg gege n den Terror abgelöst, und wenn der Klimawandel seine
Beliebtheit als Kriegsgrund verliert, werden wir sicher etwas anderes
finden, das ihn ersetzt – etwa die Bedrohung der Erde durch einen
Asteroiden – um die Kriegsmentalität zu legitimieren.
Die
Kriegsmentalität, die rechtfertigt und erzwingt, dass alles für den
Sieg aufgeopfert wird, ist auch die Mentalität des Wuchers. Wie ich in
“Ökonomie der Verbundenheit” beschreibe, treibt ein Geldsystem, das wie
unseres auf verzinsten Schulden basiert, das endlose Wachstum der
Geldsphäre und die Umwandlung der Vielfalt in Einheitlichkeit – die
Vielfalt von Werten in eine einheitliche Größe namens Wert – voran. Weil
die Gesellschaft zunehmend monetarisiert wird, glauben ihre Mitglieder,
dass Geld der Schlüssel für die Erfüllung aller Bedürfnisse und
Sehnsüchte ist. Geld, das universelle Mittel, wird dadurch auch zu einem
universellen Ziel. Genau wie das Paradies der technologischen Utopien
oder der Endsieg im Kampf gegen das Böse wird es zu einem Gott, der
unersättlich Opfer fordert. Auf der Jagd nach Geld geraten all die
kleinen oder nicht-quantifizierbaren Handlungen und Beziehungen, die das
Leben wahrhaft reich machen, aus dem Blickfeld, weil sie in Zahlen
nicht auszudrücken sind. Wenn Geld das Ziel ist, kommt alles unter die
Räder, was nicht in Geldbegriffe übersetzt werden kann.
Ähnliches
bewirkt der Krieg, natürlich, oder jede andere Kampagne, bei der es um
ein großes einheitliches Ziel geht. Wenn Sie einmal für die Weltrettung
gekämpft haben, mussten Sie wahrscheinlich feststellen, dass Sie die
kleinen Dinge, die das Leben reich machen, in ihrer Wichtigkeit
zurückstuften bis sie ganz unter die Räder kamen. Vielleicht fragten Sie
sich: “Was für eine Revolution unterstütze ich hier eigentlich? Für
welch eine Lebensweise bin ich hier ein Vorbild?” Das sind wichtige
Fragen! Wenn unsere Ahnung richtig ist, dass die Krise, mit der wir
heute konfrontiert sind, ganz bis in den tiefsten Kern geht, dann können
wir diese Fragen nicht einfach ignorieren.
A Free Man’s Worship” von Bertrand Russell
Chapter 9 ~ Verzweiflung
Zwar
verstehen viele Menschen, dass der Klimawandel mehr verlangt als eine
rein technische Lösung durch die Anwendung alternativer Technologien,
aber nur wenige würden sagen, dass jemand, der sich für die Anerkennung
der gleichgeschlechtlichen Ehe einsetzt, der Mitgefühl für die
Obdachlosen hat oder sich um Autisten kümmert etwas Entscheidendes zur
Rettung unserer Art beiträgt. Aber das liegt daran, dass wir noch kaum
verstehen, was Interbeing ist. Ich möchte behaupten, dass alles, was
gegen die Geschichte von der Separation
verstößt oder sie stört, jede einzelne Folge dieser Geschichte heilen
kann. Das gilt auch für kleine, unsichtbare Handlungen, von denen unser
rationales, durch und durch logisches Denken glaubt, sie könnten
unmöglich etwas bewirken. Und das gilt auch für die Dinge, die den
großen Weltrettungskampagnen zum Opfer fallen.
Kürzlich sprach ich mit Kalle Lasn, dem Gründer des radikalen Magazins Adbusters,
ein Mann, der sein ganzes Leben dem Aktivismus in Theorie und Praxis
gewidmet hat. Er erzählte mir, dass er nun schon seit einiger Zeit nicht
viel für die Politik oder für sein Magazin getan habe, weil er gerade
seine fünfundneunzigjährige Schwiegermutter pflegte. Er sagte: “Dass ich
mich um sie kümmere, ist für mich viel wichtiger als alles andere, was
ich bisher getan habe, zusammen.”
Kalle
stimmte mir zu, als ich meinte: “Unsere Weltsicht muss sich erst darauf
einstellen, wie wahr und wichtig das ist.” Meine liebe Leserin, mein
lieber Leser, können Sie sich eine Realität vorstellen, in der wir
unsere fünfundneunzigjährige Schwiegermutter vernachlässigen müssen, um
die Welt zu retten? In unserer Vorstellung vom Funktionieren unseres
Universums muss es einen Platz für die intimen, nicht-kalkulierten,
dienenden Handlungen geben, die ein so schöner Aspekt unserer
Menschlichkeit sind.
Sollte Kalle seinem Gefühl trauen, dass er etwas Wesentliches leistet, wenn er diese alte Frau pflegt?
Wissen
Sie nicht ganz tief drinnen, dass jedes Glaubenssystem, das die
Bedeutsamkeit dieser Entscheidung nicht anerkennt, Teil des Problems
sein muss?
Könnten Sie es ertragen in einer Welt zu leben, in der das, was Kalle tut, nicht wichtig ist?
Wir
können die Tätigkeiten, die die weltverschlingende Maschine am Laufen
halten, nur dann weiter verrichten, wenn wir dieses Gefühl von
Bedeutsamkeit unterdrücken.
Wir
zwingen uns selbst, im Namen der Zweckmäßigkeit Dinge zu tun, die uns
irgendeine abstrakte Überlegung vorgibt. Gelegentlich kann diese
“Zweckmäßigkeit” bedeuten: “was das Ökosystem heilt, soziale
Gerechtigkeit bringt und das Überleben der Menschheit fördert,” aber in
den meisten Fällen und für die meisten Menschen hat Zweckmäßigkeit mit
Geld zu tun oder mit anderen Dingen, die Sicherheit und Bequemlichkeit
versprechen. Und Geld entsteht in unserem jetzigen System dadurch, dass
wir uns an der Umwandlung von Natur in Waren, von Gemeinschaft in Märkte
und von Beziehungen in Dienstleistungen beteiligen. Wenn Ihr Herz nicht
für diese Dinge schlägt, werden Sie feststellen, dass Zweckmäßigkeit
oft dem Drang des Herzens widerspricht.
Das
Problem geht aber über eine eigennützige Auffassung von Zweckmäßigkeit
hinaus. Es reicht hinunter bis zum Verständnis von Ursache und Wirkung,
das ihm zugrunde liegt. Das Drängen des Herzens widerspricht
möglicherweise nicht nur dem Diktat des Geldes, es widerspricht
vielleicht auch der instrumentalistischen Logik überhaupt.
Das
soll nicht heißen, dass wir das Denken und die Logik außer Acht lassen
sollten, wenn wir versuchen zweckmäßige Veränderungen in der Welt zu
bewirken, genauso wenig wie wir die Technik aufgeben sollten oder die
Literatur oder eine andere Frucht unserer jahrtausendelangen Reise in
die Separation. Die Werkzeuge der Kontrolle, die Anwendung von Kraft und
Vernunft haben gewiss ihren Platz. Die Menschheit ist von der Natur
nicht ausgenommen: Mit unseren Fähigkeiten können wir, wie jede andere
Spezies auch, einen einzigartigen Beitrag für das Wohlergehen und die
Entwicklung des Ganzen leisten. Wir müssen nur unsere Fähigkeiten in
diesem Geiste nutzen; stattdessen nutzten wir sie bisher, um zu
beherrschen und zu erobern, wir schwächten die Kraft Gaias und all ihrer
Geschöpfe und schwächten so auch uns selbst. Jetzt haben wir die
Möglichkeit unsere einzigartigen menschlichen Fähigkeiten zu
transformieren: aus Werkzeugen der Herrschaft Werkzeuge des Dienens zu
machen.
Vielleicht
denken Sie es sei gefährlich Verzweiflung zu säen, selbst wenn ich die
Wahrheit sage. Aber die Verzweiflung ist da, ob ich sie säe oder nicht.
Alle Aktivisten, die ich befragte, bestätigen, dass sie früher oder
später genau mit dieser Verzweiflung konfrontiert waren, die ich hier wachrufe. Wir versuchen, sie durch Gedankengänge wie den folgenden zu überspielen: “Klar wird es nichts bringen, wenn du der Einzige
bist, der etwas ändert, aber wenn jeder es macht, dann wird sich die
Welt verändern.” Richtig, aber liegt es in Ihrer Macht, alle dazu zu
bringen? Nein. Was Sie tun würde eine Rolle spielen, wenn es jeder täte;
umgekehrt spielt dann das, was Sie tun, auch keine Rolle, wenn es nicht
jeder andere auch tut. Mir ist es nie gelungen einen Ausweg aus diesem
Dilemma innerhalb seiner eigenen Logik zu finden. Es ist so solide wie
seine Voraussetzungen: das vereinzelte Selbst
in einer objektiven Welt. Schlimmer noch: Manche würden sagen, dass
unsere individuellen Bemühungen lokal zu kaufen oder Müll zu recyceln
oder Rad zu fahren sogar kontraproduktiv sind, weil sie uns
fälschlicherweise selbstgefällig machen und dadurch effektivere
revolutionäre Handlungen schwächen; und weil sie nichts daran ändern,
dass die viel größeren Zerstörungsmechanismen weiter am Werk sind. Wie
Derrick Jensen sagt: duschen Sie nicht kürzer.
Ich
glaube es ist besser, die Verzweiflung nicht zu verschleiern, weil die
wirkliche Hoffnung erst auf der anderen Seite davon liegt. Die
Verzweiflung ist Teil des Terrains, das wir durchqueren müssen. Bevor
wir nicht die andere Seite erreichen, wiegt die Verzweiflung schwer in
unseren Herzen, während wir weiterkämpfen und nie ganz davon überzeugt
sind, dass wir wirklich etwas Gutes tun. So stark unser Geist auch ist,
am Ende geraten unsere Bemühungen ins Taumeln, unsere Energie erlahmt,
und wir geben auf. Vielleicht lässt uns persönlicher Ehrgeiz noch eine
Weile weitermachen, wenn wir das Selbstbild aufrechterhalten wollen,
dass wir ethisch und bewusst handeln, und dass wir “Teil der Lösung”
sind. Aber diese Motivation ist nicht fest genug um uns den Mut, die
Hingabe und das Vertrauen zu geben, die wir brauchen.
Wahrer
Optimismus kommt erst, wenn man das Terrain der Verzweiflung durchquert
und sich darauf eingelassen hat; wenn man das ganze Ausmaß der Krise
kennt und sich auch über die Kräfte, die der Heilung im Wege stehen, im
Klaren ist. Bei meinen Vorträgen treten mir manchmal Menschen entgegen
und belehren mich, dass die Machtelite mit ihrer Propagandamaschinerie
die Finanzen und die Politik in ihrer Gewalt hat oder sogar über
Technologien der Bewusstseinskontrolle verfügt. Sie glauben ich wüsste
nichts darüber oder ignorierte mutwillig, wie unser System in
Wirklichkeit funktioniert. Oder sie sprechen von der Apathie der Massen,
von der Gier und Ignoranz der Menschen, die es einfach nicht kapieren,
und sagen, es sei unwahrscheinlich, dass man sie je ändern könnte. Das
alles gehört zum Terrain der Verzweiflung, mit dem ich innig vertraut
bin. Es ist nicht so, dass ich vor der blanken Wahrheit zurückgeschreckt
bin, weil ich sie nicht ertragen kann. Der Optimismus liegt erst auf
der andern Seite, und die Hoffnung ist sein Vorbote.
A Free Man’s Worship” von Bertrand Russell
"Dass der Mensch ein Produkt
der Ursachen ist, die keine Voraussicht auf das Ziel besaßen, das sie
anstrebten; dass sein Ursprung, seine Entwicklung, seine Hoffnungen und
Ängste, seine Liebe und sein Glauben nichts als das Ergebnis zufälliger
Anordnungen von Atomen sind; dass kein Feuer, kein Heldenmut, keine
Intensität von Gedanken oder Gefühl ein einzelnes Leben über das Grab
hinaus bewahren kann; dass all die Mühen der Jahrhunderte, all die
Hingabe, all die Inspiration, all die Momente des taghell strahlenden
menschlichen Genies der Vernichtung durch den Tod des Sonnensystems
geweiht sind, und dass der ganze Tempel der menschlichen
Errungenschaften unvermeidlich begraben werden muss unter dem Schutt
eines Universums in Ruinen – all diese Dinge, wenn sie nicht überhaupt
außer Frage stehen, sind doch zumindest annähernd so sicher, dass keine
Philosophie, die sie zurückweist, Hoffnung auf Bestand hat. Nur im
Gerüst dieser Wahrheiten, nur auf der festen Grundlage der
unnachgiebigen Verzweiflung kann hinfort eine Heimstatt der Seele sicher
gebaut werden."
Chapter 10
Möglicherweise
haben viele meiner Leserinnen und Leser immer noch eine weite Strecke
durch das Terrain der Verzweiflung zurückzulegen, bevor sie sich ganz
auf die neue Geschichte einlassen können. Ich weiß das gilt auch für
mich. Aber trotzdem gewinnen wir, die wir stückchenweise das Terrain der
Verzweiflung hinter uns lassen, das Vertrauen und den Mut Dinge zu tun,
die im Rahmen der alten Geschichte sinnlos sind. Diese Erkenntnis ist
befreiend. So viele Menschen unterdrücken ihr Potential, weil sie
meinen, sie müssten etwas Großes damit tun. Was man selber tut, ist
nicht genug, man muss schon ein Buch schreiben, mit dem man Millionen
Menschen erreicht. Wie schnell gerät das zu einem Wettkampf darum,
wessen Ideen gehört werden. Wie sehr entwertet das die kleinen, schönen
Gesten und Bemühungen so vieler Menschen; entwertet paradoxerweise genau
diese Dinge, die wir im großen Maßstab zu tun beginnen müssen, um einen
lebenswerten Planeten aufrechtzuerhalten. Wieder und wieder fragen mich
junge Leute: “Ich würde mich wirklich gerne mit Permakultur
beschäftigen – aber habe ich nicht die Verantwortung etwas Größeres als
nur das zu tun?” Ich antworte, dass diese Entscheidung nur aus der
Perspektive der Separation gering erscheint. Aus der Sicht des
Interbeing ist ihre Entscheidung nicht weniger wichtig als eine
Entscheidung des Präsidenten.
Die
Logik der Separation hält uns in einem Paradox gefangen. Die Welt kann
sich nur ändern, wenn Milliarden von Menschen andere
Lebensentscheidungen treffen, aber auf individueller Ebene spielt keine
dieser Entscheidungen eine Rolle. Die Dinge, auf die es ankommt,
bewirken nichts. Was, wenn nur ich sie tue aber sonst niemand? Gewiss
sieht es danach aus als wäre ich allein damit. Warum sie dann überhaupt
tun?
Ich
will hier nicht suggerieren, dass wir diese kleinen Dinge tun sollten,
weil sie auf mysteriöse Weise die Welt ändern werden (obwohl sie das
tun). Ich schlage eher vor, dass wir uns mehr danach orientieren
sollten, woher unsere Entscheidungen kommen als danach, worauf sie abzielen. Die neue Geschichte bestätigt und veranschaulicht unsere
Entscheidungen, aber die Motivation dafür kommt von woanders. Denn
woher können wir schließlich wirklich wissen, was die Auswirkungen
unserer Handlungen sein werden? Die Komplexitätstheorie lehrt uns, dass
in dem chaotischen Bereich zwischen zwei Attraktoren geringe Störungen
gewaltige, unvorhersehbare Auswirkungen haben können. Wir sind heute an
solch einem Punkt.
Unsere Zivilisation nähert sich einem Phasenübergang. Wer kann die
Auswirkungen unserer Handlungen vorhersagen? Ein Polizist gibt einem
barfüßigen obdachlosen Mann ein Paar Stiefel, eine unscheinbare Geste
der Freundlichkeit. Wie konnte er wissen, dass ihn jemand fotografierte,
und dass seine Handlung bei einer Unzahl von Menschen ein Gefühl von Güte und Freundlichkeit wachrufen
würde? Der Mann verkauft dann die Stiefel um Drogen zu kaufen, was den
Zynismus von weiteren Tausenden anfacht. Ob sichtbar oder unsichtbar,
Handlungen von großem Vertrauen, Handlungen, die aus einer Grundhaltung kommen, die tief in der Wiedervereinigung verankert ist, senden wirksame Wellen hinaus in das Gefüge der Kausalität. So oder so, vielleicht über Wege, von denen wir nichts wissen, finden sie einen Weg an die Oberfläche der sichtbaren Welt.
Als
meine Kinder noch klein waren, gingen sie in einen Montessori
Kindergarten. Nie zuvor oder danach habe ich eine Schule gesehen, die so
voll von Liebe, Lachen und Freundlichkeit war. Die Erzieherinnen
behandelten die Kinder mit tiefem, ehrlichem Respekt ohne sie je zu
bevormunden oder zu etwas zu zwingen, ohne sie mit Lob oder Tadel zu
manipulieren. Dadurch ermöglichten sie ihnen zu erfahren was bedingungslose Liebe ist. Diese Kindergartenzeit ist jetzt nur mehr eine nebelhafte Erinnerung für die jungen Menschen,
die von dort aus in die harte, erniedrigende Welt der Separation
hinausgingen, aber vor meinem geistigen Auge sehe ich einen kleinen
goldenen Schimmer in ihnen, und in diesem Schimmer sehe ich ein
Samenkorn. Es ist der Same von bedingungsloser Liebe und Respekt, die
sie dort erfuhren, und er wartet auf eine Gelegenheit zu keimen und zu
blühen und die gleiche Frucht, die meine Kinder erhielten, an andere
weiterzugeben, denen sie begegnen. Vielleicht sind ein oder zwei
Kindergartenjahre nicht genug um die brutale Maschinerie der Separation
zu überwinden, die eine Kindheit heute prägt, aber wer kann schon
wissen, wann und wie diese Erfahrung Knospen treiben wird? Wer weiß
schon, welche Auswirkungen sie haben wird? Ein oder zwei Jahre während
eines so entscheidenden Lebensstadiums an einem Zufluchtsort voll Liebe
und Respekt zu sein prägt einen Menschen, verleiht ihm eine Neigung
zu Mitgefühl, Sicherheit, Selbstliebe und Selbstrespekt. Wer kann schon
wissen wie diese Prägung die Entscheidungen des Kindes in seinem
späteren Leben verändern wird? Wer kann schon wissen, wie diese
Entscheidungen die Welt verändern werden?
Chapter 11: Morphogenese
Ohne
Zweifel werden einige von Ihnen jetzt denken: “Der Eisenstein meint
offenbar, dass globale Erwärmung, Imperialismus, Rassismus und der ganze
Rest an katastrophalen Problemen, die den Planeten bedrohen, sich
magisch von selbst auflösen, wenn jeder sich nur darauf konzentriert,
seine oder ihre Großmutter zu pflegen und im Park Müll aufzulesen. Er
fördert eine gefährliche Passivität, eine Selbstzufriedenheit, die die
Menschen glauben lässt, sie täten etwas Nützliches, während die Welt in
Flammen steht.” Die letzten paar Kapitel sollten es eigentlich klar
gemacht haben, dass es nicht das ist, was der Eisenstein denkt, aber nur
um ganz sicher zu gehen, lassen Sie mich diese Kritik direkt
beantworten; schließlich habe ich sie nicht nur von anderen gehört
sondern sogar noch häufiger in meinem eigenen Kopf.
Erstens
schließen die persönlichen, lokalen, unsichtbaren Taten, von denen ich
schrieb, andere Handlungen nicht aus, zum Beispiel ein Buch zu schreiben
oder einen Boykott zu organisieren. Auf den Ruf des Augenblicks zu
hören und auf seine Richtigkeit zu
vertrauen stärkt die gleiche Haltung gegenüber den größeren Dingen. Ich
spreche von einer umfassenden Bewegung hinein in einen Zustand des
Interbeing, von dem aus man in jeder Situation handelt. Das Universum
ruft in unterschiedlichen Situationen nach verschiedenen Fähigkeiten in
uns. Wenn es ein Ruf nach dem Kleinen und Persönlichen ist, dann nehmen
wir ihn wahr,
damit wir uns daran gewöhnen und ihn dann auch erkennen, wenn es ein
Ruf nach dem Großen und Öffentlichen ist. Hören wir doch nicht mehr auf
die Logik der Separation, die das Kleine und Persönliche entwerten
würde.
!!! <3
Als
meine beiden älteren Kinder noch klein waren, lebte ich einige Jahre
als nichtberufstätiger Vater und versuchte mitten in einer Welt aus
Windeln und Lebensmitteln mein erstes Buch zu schreiben. Ich war oft
furchtbar frustriert und quälte mich selbst mit Gedanken wie: “Ich habe
der Welt so wichtige Dinge mitzuteilen, und jetzt stehe ich da und
wechsle Windeln und koche den ganzen Tag.” Diese Gedanken lenkten mich
von der naheliegenden Aufgabe ab und führten dazu, dass ich im Umgang
mit meinen Kindern viel weniger präsent war. Ich verstand damals noch
nicht, dass die Momente, in denen ich mich in meine Situation fügte, das
Schreiben beiseite schob und mich ganz meinen Kindern widmete, einen
genauso starken Einfluss auf das Universum hatten wie jedes Buch, das
ich schreiben würde. Wir haben nicht immer den Blick dafür, aber alles
hat seine karmischen Auswirkungen, oder wie es die Gläubigen im Westen
sagen: Gott sieht alles.
Stellen
Sie sich vor, Sie lägen am Sterbebett und blicken auf Ihr Leben zurück.
Welche Momente werden Ihnen die wertvollsten sein? Für welche
Entscheidungen werden Sie am dankbarsten sein? Für Patsy wird es viel
eher sein, dass sie Mrs. K. sauber gemacht hat als irgendein
Verkaufsabschluss, der ihr einmal gelungen war. Für mich wird es sein,
dass ich Jimi und Matthew in ihren Spielzeugautos den Hügel hinauf
geschoben habe, mehr als irgendeine öffentliche Leistung, die ich zu
verzeichnen habe. Auf meinem Sterbebett werde ich für jede Entscheidung
für Verbundenheit, Liebe und Hingabe dankbar sein.
Können
Sie ein Universum gut heißen, in dem diese Erkenntnisse am Sterbebett
falsch sind? Können Sie ein Universum gut heißen, in dem wir uns selbst
hart machen müssen, um diese Dinge zu vernachlässigen, damit wir uns
effizienter dem Weltrettungsgeschäft widmen können?
Sehen
Sie auch, dass es genau diese Verhärtung zur Überwindung unserer
eigenen Menschlichkeit war, die uns überhaupt erst in dieses Schlamassel
gebracht hat?
Chapter 14 - Geist
Warum
versuchen wir so verzweifelt der materiellen Welt zu entkommen? Ist sie
wirklich so trostlos? Oder könnte es nicht eher sein, dass wir sie so
trostlos gemacht haben: dass wir mit unseren ideologischen
Scheuklappen ihr strahlendes Mysterium nicht sehen, dass wir durch
unsere Kategorien ihre mannigfaltige Verbundenheit in Stücke gehackt,
ihre spontane Ordnung zugepflastert, ihre unendliche Vielfalt auf unsere
Waren reduziert, ihre Ewigkeit durch unsere Zeitmessung zersplittert
und ihren Überfluss durch unser Geldsystem dementiert haben? Wenn dem so
ist, dann sind wir auf der falschen Spur, wenn wir uns von einer
nicht-materiellen, spirituellen Sphäre die Erlösung aus dem Gefängnis
der materiellen Welt erhoffen.
Die
Aktivisten liegen richtig, wenn sie solchen Versuchen gegenüber
skeptisch sind. Wenn das Heilige außerhalb der materiellen Welt zu
finden wäre, warum sollte man sich dann überhaupt um das Materielle
kümmern? Wenn die Interessen der Seele den Interessen des Fleisches
entgegen stehen, warum sollte man dann versuchen, die Welt des
Fleisches, die gesellschaftliche und materielle Welt, zu verbessern?
Spiritualität wird zu dem, was für Marx die Religion war: Opium fürs
Volk, eine Ablenkung von den ganz realen materiellen Problemen, vor
denen unser Planet steht.
Ich
kann verstehen, warum er so dachte. Seit mittlerweile langer Zeit haben
sich die in praktischen Projekten engagierten Aktivisten über die
spirituell Suchenden lustig gemacht. “Runter von euren Meditationskissen
und an die Arbeit! Da ist Leid wohin man schaut. Ihr habe Hände, ein
Gehirn, Ressourcen. Macht etwas gegen das Leid!” Wenn das Haus
niederbrennt, sitzt ihr dann auch nur meditierend da und visualisiert
kühle Wasserfälle, um das Feuer mit der Kraft der Manifestation zu
löschen? Nun, das metaphorische Haus um uns herum brennt gerade nieder:
Die Wüsten breiten sich aus, die Korallenriffe sterben, und die letzten
Indigenen werden zu Grunde gerichtet. Und ihr seid mittendrin in all dem
und versenkt euch in den kosmischen Klang OM. Aus dieser Perspektive
ist Spiritualität eine Art Eskapismus.
Auf
diese starke Kritik kontern die spirituellen Leute mit einer
ebenbürtigen Erwiderung. “Wie wollt ihr ohne gründlich an euch selbst zu
arbeiten vermeiden, eure eigene internalisierte Unterdrückung in allem
was ihr tut nachzubilden?” So oft sehen wir genau den gleichen
Machtmissbrauch und genau die gleichen organisatorischen Fehlfunktionen
bei den Aktivisten für sozialen Wandel, wie in den Institutionen, die
sie verändern wollen. Gesetzt den Fall diese Aktivisten könnten sich
tatsächlich durchsetzen, warum sollten wir erwarten, dass die
Gesellschaft, die sie erschaffen, plötzlich anders sein würde? Solange
wir nicht transformativ an uns selbst gearbeitet haben, werden wir
Produkte genau derjenigen Zivilisation bleiben, die wir verändern
wollen.
Wir
müssen unsere eigenen Gewohnheiten zu denken, zu glauben und zu handeln
verändern und mit ihnen auch unsere Systeme. Jede der Ebenen
beeinflusst die andere: Unsere Gewohnheiten und unsere Meinungen bilden
den psychischen Unterbau unseres Systems, das im Gegenzug in uns
entsprechende Meinungen und Angewohnheiten hervorbringt. Darum werden
politische Aktivisten und spirituelle Lehrer gleichermaßen
missverstanden, wenn die ersteren sagen: “Es ist eine frivole,
hemmungslose Ausflucht euch darauf zu konzentrieren euer
Mangelbewusstsein zu ändern, wenn der systemische Zwang von realem
Mangel, der über Leben und Tod entscheidet, weiterhin Milliarden
unterdrückt, egal was Ihr denkt oder wie ihr euch zu leben entscheidet.”
Und die anderen sagen: “Arbeitet nur an euch selbst, und die Welt um
euch herum wird sich verändern. Flüchtet euch nicht vor den realen,
persönlichen Themen, indem ihr das Problem auf die Gesellschaft, das
politische System, die Konzerne etc. projiziert.”
Diese beiden Lager sind dazu bestimmt Verbündete zu sein, und tatsächlich wird keines ohne das andere Erfolg haben. Je mehr Menschen eine Haltung der Dankbarkeit, der Großzügigkeit und des Vertrauens annehmen und das auf Angst basierende Denken zu einem gewissen Grad hinter sich lassen, desto eher wird das gesellschaftspolitische Klima für die radikale Reform offen sein, die die Werte des Interbeing umsetzen wird. Und je mehr sich unser System dahingehend verändert, dass es diese Werte verkörpert, desto leichter wird es für die Menschen, den persönlichen Wandel zu vollziehen. Heute schreit uns unser wirtschaftliches Umfeld ins Gesicht: “Knappheit!”; unser politisches Umfeld grölt: “Wir gegen die”; unser medizinisches Umfeld brüllt: “Habt Angst!” Und zusammen halten die drei uns allein und in Angst vor einer Veränderung.
Diese beiden Lager sind dazu bestimmt Verbündete zu sein, und tatsächlich wird keines ohne das andere Erfolg haben. Je mehr Menschen eine Haltung der Dankbarkeit, der Großzügigkeit und des Vertrauens annehmen und das auf Angst basierende Denken zu einem gewissen Grad hinter sich lassen, desto eher wird das gesellschaftspolitische Klima für die radikale Reform offen sein, die die Werte des Interbeing umsetzen wird. Und je mehr sich unser System dahingehend verändert, dass es diese Werte verkörpert, desto leichter wird es für die Menschen, den persönlichen Wandel zu vollziehen. Heute schreit uns unser wirtschaftliches Umfeld ins Gesicht: “Knappheit!”; unser politisches Umfeld grölt: “Wir gegen die”; unser medizinisches Umfeld brüllt: “Habt Angst!” Und zusammen halten die drei uns allein und in Angst vor einer Veränderung.
Auch
auf der mittleren Ebene, der von Familie, Gemeinschaft und dem
Lebensumfeld, verstärkt unsere gesellschaftliche und materielle Umwelt
die Separation. Wie wir da in Kernfamilien in isolierten Gehäusen leben,
das Lebensnotwendige von anonymen Fremden kaufen und für unsere
Versorgung überhaupt nicht auf das Land um uns herum angewiesen sind,
wird die Separation schon in unserer grundlegenden Weltauffassung
unterstellt. Deshalb könnten wir sagen, dass jedes Bestreben, diese
Umstände zu verändern, spirituelle Arbeit ist.
Ebenso
ist jede Bemühung, die Grundwahrnehmungen der Menschen von der Welt zu
verändern politische Arbeit. Welche Menschen suchen in den sich
ausbreitenden Vororten Zuflucht? Welche Menschen arbeiten in Jobs, die
kein anderes Verlangen befriedigen außer jenem nach
Sicherheit? Welche Menschen sehen tatenlos zu, wie ihre Nation einen
ungerechten Krieg nach dem anderen führt? Die Antwort ist: Ängstliche
Menschen. Entfremdete Menschen. Verletzte Menschen. Darum ist
spirituelle Arbeit auch politisch, wenn sie Liebe, Verbundenheit,
Vergebung, Toleranz und Heilung verbreitet.
Wenn wir nicht mehr eine starre Unterscheidung zwischen eigen und fremd
aufrechterhalten, dann erkennen wir, dass die Welt das Selbst
widerspiegelt; dass, um an sich selbst zu arbeiten, Arbeit an der Welt
notwendig ist, und dass es für eine effektive Arbeit an der Welt
notwendig ist, an sich selbst zu arbeiten. Wohl gab es
immer schon spirituelle Praktiker, die politisch aktiv waren und
politische Aktivisten mit einer tiefen Spiritualität, aber jetzt wird
die Anziehungskraft jeder der beiden Sphären auf die andere
unwiderstehlich. Immer mehr gesellschaftspolitische Aktivisten und Umweltaktivisten wenden sich auf eine viel persönlichere Art gegen die populären Ansichten.
Die Unterstützer von Occupy werden wahrscheinlich auch
bindungsorientierte Elternschaft gut heißen, Meditation praktizieren und
alternative Medizin nützen. Die Hippies und die radikalen Achtundsechziger finden zueinander.
Chapter 15
Keine Sorge, ich habe nicht vor, meinen Optimismus an die Hoffnung zu knüpfen, dass uns irgendeine Wundertechnologie retten werde.
Wenn es die Technologie wäre, die uns retten kann, dann hätte sie das
schon getan. Wir haben schon lange die Technologien für ein nachhaltiges
Leben in Fülle auf diesem Planeten, aber wir nutzten sie für andere
Zwecke. Mit vollkommen unumstrittenen Technologien könnten wir in einem
Paradies auf Erden leben: Ressourcenschonung und Energieeinsparung,
Recycling, umweltfreundliches Design, Solarenergie, Permakultur,
biologische Abwasserbehandlung, Fahrräder, reparaturfreundliches Design,
lange Haltbarkeit, Wiederverwendbarkeit, und so weiter.iii
Das alles sind Technologien, die schon existieren, und das großteils
schon seit Jahrzehnten oder Jahrhunderten. Es braucht gar keine neuen
Wundertechnologien. Allerdings ist eine andere Art von Wunder notwendig,
damit diese schon vorhandenen Technologien ihr Versprechen einlösen
können: ein gesellschaftliches oder politisches Wunder. Das ist es, was
es brauchte, um die Abholzung rückgängig zu machen, die
Treibhausgas-Emissionen zu drosseln, zerstörte Wasserläufe
wiederherzustellen und all die rechtlichen, sozialen und ökonomischen
Hindernisse der Veränderung aus dem Weg zu räumen. Wir bräuchten
zweifellos ein anderes Geldsystem und daher eine radikale
Umstrukturierung der wirtschaftlichen Machtverhältnisse und Privilegien.
Es bedürfte eines kompletten Verzichts auf Militarismus und alle
dahinterliegenden Glaubenssysteme. Es erforderte, dass Millionen
Menschen zurück aufs Land ziehen und hoch produktive, arbeitsintensive
Landwirtschaft in kleinem Maßstab betreiben. Technologisch machbar?
Sicher. Politisch realistisch? Wohl kaum.
Obwohl
die Wissenschaft, wie wir sie kennen, von zentraler Bedeutung für das
jahrhunderte- oder jahrtausendelange Programm, die Natur zu beherrschen
ist, obwohl ihre Methode Wissen zu erlangen genau das Paradebeispiel für
das “Zum-Anderen-Machen” der Natur und das “Zum-Objekt-Machen” der Welt
ist, sind oft gerade die wissenschaftlich orientierten Menschen
glühende Umweltschützer und Verfechter der Bürgerrechte oder der
Gleichbehandlung von Homosexuellen und anderer Einstellungen voll
Mitgefühl. Das ist ein Beispiel für ein allgemeines Prinzip: Unser
Eintreten in die neue Geschichte geht ungleichmäßig vor sich. In einem
Lebens- oder Gedankenbereich haben wir vielleicht alle Überreste der Separation überwunden,
während wir in einem anderen Bereich völlig blind dafür sind. Ich kann
nicht aufhören, mich darüber zu wundern. Jemand hat etwa ein tiefes
Verständnis von den inneren und äußeren Instanzen, von Rassismus,
Sexismus, Klassismus und Kolonialismus, aber er hat keine Ahnung, dass
westliche Medizin und zu einem gewissen Grad die Wissenschaft selbst
auch zu diesen Instanzen gehören. Oder ich gehe zu einer Konferenz über
traditionelle Ernährung, wo die Menschen gründlich verstehen, wie
korrupt unser Ernährungssystem ist, wie es das Land, die Gesundheit und
die Gemeinschaft zerstört, aber sie sind sich nicht bewusst, dass das
Schulsystem großteils das Gleiche macht. Sie zitieren Studien, in denen
der Zusammenhang zwischen Ernährung und der Schulleistung korreliert
wurde und sagen: “Hätten die Kinder bloß eine bessere Ernährung, dann
könnten wir ihre schulischen Leistungen verbessern,” und sie gehen davon
aus, dass es ein Zeichen für ein gesundes Kind sei, in der Schule
aufzupassen und gute Noten bei Tests zu schreiben. Aber wenn uns bewusst
wird, was für eine Konditionierungsanstalt das Schulsystem ist, das den
Kindern Gehorsam gegenüber Autoritäten, Passivität und das Erdulden von
Langeweile um externer Belohnungen willen anerzieht, beginnen wir, die
schulische Leistung als Maß für das Wohlbefinden in Frage zu stellen.
Vielleicht ist ein gesundes Kind eines, das sich der Beschulung und
Standardisierung widersetzt, nicht eines, das sich darin besonders
hervortut. Dann gehe ich auf eine Konferenz über Bildung, wo die
Menschen das verstehen, aber (nach dem Essen, das dort verzehrt wird und
dem Gesundheitszustand der Teilnehmer zu urteilen) wenig Bezug zu ihrem
Körper haben oder sich kaum im Klaren darüber sind, dass das
Ernährungssystem genauso korrupt ist, wie das Erziehungssystem. Und fast
überall, wo ich hingehe, egal wie radikal das Publikum über
Landwirtschaft oder Erziehung oder Sexualität oder Politik diskutiert,
wenn es ihre Gesundheit betreffend hart auf hart kommt, dann gehen sie
zu einem konventionellen Arzt.
Lange
Zeit arbeiteten Aktivisten auf diesen und vielen anderen Gebieten
isoliert in ihren Zellen, so, als hätten sie es mit einzelnen,
irregulären Übeln in einem System zu tun, das trotz einiger Probleme im
Großen und Ganzen solide ist. Es war nicht offensichtlich, dass sich
jemand, der sich zum Beispiel für eine Gefängnisreform einsetzt, mit
einer anderen Facette derselben Sache beschäftigt wie jemand, der sich
der biologischen Landwirtschaft widmet. Zum Glück ändert sich das jetzt.
Eine schleichende Radikalisierung setzt ein, wenn die Menschen die
wechselseitige Verbundenheit all unserer Systeme und Institutionen,
sowie deren Mitschuld an der Aufrechterhaltung der herrschenden
Narrative erkennen. Das Gefängnissystem, wie wir es kennen, beruht auf
den gleichen Ansichten, die auch unserem Ernährungssystem, dem
Bildungssystem und dem medizinischen System zugrunde liegen. Sie alle
stützen sich auf die gleiche politische Mentalität, die gleichen
wirtschaftlichen Mechanismen und die gleiche Art von
zwischenmenschlichen Beziehungen.
Sie
entspringen (und tragen bei zu) der gleichen psychologischen
Disposition, man könnte auch sagen: dem gleichen Seinszustand. Deshalb
breitet sich die schleichende Radikalisierung, von der ich spreche,
letztendlich auch auf den spirituellen Bereich aus, womit ich – wieder –
nicht etwas Jenseitiges meine, sondern den Bereich, der sich mit den
fundamentalen Fragen “Wer bin ich?”, “Was ist der Sinn des Lebens?” und
so weiter befasst.
In
diesem Kapitel hat wahrscheinlich jeden irgendetwas unangenehm berührt.
Wenn die Dinge auseinanderfallen, halten wir Ausschau nach einem
schützenden Unterstand, einer vertrauten Institution, auf die wir uns
verlassen können als einen Hort des Guten und Wahren. In diesem
Zeitalter gibt es so etwas nicht: nicht die Wissenschaft, nicht die
Erziehung, nicht die Medizin, nicht die akademische Welt. Selbst unsere
Spiritualität ist, wie wir gesehen haben, voll von Denkformen der Separation.
Es
ist ganz natürlich, auf die auseinanderfallende Welt defensiv zu
reagieren und sich umso mehr an das alles zu klammern. Wenn Sie
emotional darauf reagieren, dass ich mich über eine Ihrer heiligen Kühe
abfällig äußerte, bedeutet das wahrscheinlich, dass ich damit etwas
bedrohe, das mehr als nur eine Ansicht ist. Vielleicht sind Sie anderer
Meinung als ich über die Wirksamkeit von Akupunktur oder die
Authentizität von Kornkreisen. Ist es ein rein intellektueller Dissens,
oder sind Sie ein klein wenig sauer? Welche emotional gefärbten Urteile
begleiten diese Meinungsverschiedenheit? Dass ich einfach gestrickt und
leichtgläubig sei? Dass ich keine Ahnung von Grundlagenwissenschaft
habe? Dass ich es vermieden habe, Gegenbeweise zu prüfen, die mir mein
Wunschdenken ruiniert hätten? Dass meine Ansichten unverschämt,
verachtenswert oder peinlich seien? Rechtfertigen Sie ihre Verachtung
mit Argumenten wie: “Diese Ansichten machen den Menschen falsche
Hoffnungen und lenken sie von Lösungen ab, die vielleicht tatsächlich
funktionieren würden”? Wenn das so ist, ist es wirklich das, was Sie so wütend macht, oder ist es etwas anderes?
Ich
habe herausgefunden, dass, wenn ich emotional auf eine Idee reagiere,
die meinen Ansichten widerspricht, es gewöhnlich deshalb ist, weil sie
meine Geschichte von der Welt oder meine Geschichte vom Selbst bedroht und dadurch ein existentielles Unbehagen auslöst. Es fühlt sich wie eine gewaltsame Grenzüberschreitung an.
Chapter 16
Außerdem
ist das Verständnis des Interbeing nicht einmal innerhalb der
westlichen Zivilisation neu. Es stellt so etwas wie ein rezessives Gen
in unserer Kultur dar, nie dominant, meist inaktiv, aber gelegentlich,
in den goldenen Zeitaltern der Menschheit kommt es zu einer herrlichen,
wenngleich immer nur partiellen, Expression. Trotzdem nenne ich sie eine
neue Geschichte: weil sie nie zuvor Grundlage für eine ganze
Zivilisation war. Sie steht in frischem Kontrast zu der Welt, die wir
gewohnt sind, zur Separation, die im Geld, in der Schule, in der
Religion, der Politik und allen anderen Erscheinungsformen des modernen
Lebens verkörpert ist.
Ein
allgemeines Interesse an indigener Spiritualität kann als die äußerste
Form von Kulturmord kritisiert werden, wodurch die Geschichten, Rituale
und heiligen Glaubensvorstellungen einer Kultur vereinnahmt und
entwürdigt werden. Aber es erwächst auch aus einer allgemeinen
Erkenntnis, dass die Indigenen ein wichtiges Wissen überliefern, das
verloren ging, ein Wissen, für das wir im Westen endlich bereit sind,
jetzt, wo unsere eigenen Rituale, Mythen und Institutionen
zusammenbrechen.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen