Das charismatische Oberhaupt des tibetischen Buddhismus ist zunehmend skeptisch gegenüber Religionen, weil sie auch Gewalt, Fanatismus und Intoleranz hervorbringen.
In einer Aufsehen erregenden Rede sagte er an diesem Sonntag in Basel vor über 7.000 Besuchern: „Wir brauchen eine säkulare Ethik jenseits aller Religionen“. Ich hatte Gelegenheit, den Dalai Lama nach dieser Aussage zu fragen. Er formuliert dabei einen „Basler Friedensappell“ in einer Zeit, in der mitten in Europa nach Jahren des Friedens wieder ein furchtbarer Krieg herrscht. „Voraussetzung für Frieden ist mehr Mitgefühl und eine ganz neue Ethik, eine Ethik ohne Religion“, sagt er. Das Wissen und die Praxis von Religion seien zwar hilfreich, aber es gehe auch ohne Religion und auch ohne Buddhismus, gibt er sich überzeugt. Wir bräuchten eine „säkulare Ethik“, die auch für die etwa eine Milliarden Atheisten hilfreich und brauchbar sei. „Be a kind person“ („Seien Sie einfach ein netter Mensch“) sei auch möglich, wenn man nicht glaube, sagt der Dalai Lama und lacht sein weltbekanntes gurgelndes Lachen, das so etwas wie sein Markenzeichen ist und immer ansteckend wirkt – auch in das Basler St. Jakobshalle. Er habe gute Beispiele religionsfreier Ethik im Unterricht in der ganzen Welt erlebt. Nach den Grundlagen einer säkularen Ethik gefragt, antwortet er: „Bildung, Respekt, Toleranz und Gewaltlosigkeit, mehr innere Werte.“
Leider gebe es unter den sechs Milliarden „Gläubigen“ auf der Welt „viele Korrupte“, die nur ihre eigenen Interessen verfolgten. Im 20. Jahrhundert seien die materiellen Interessen zu stark gelehrt und gefördert worden. „Innere Werte müssen das 21. Jahrhundert prägen“, sagt er und lacht schon wieder. „Dann wird unser Jahrhundert ein Jahrhundert des Friedens und des Dialogs. Allerdings wird es äußeren Frieden erst geben, wenn es mehr inneren Frieden gibt. Das gilt für alle aktuellen Konflikte: In der Ukraine, im Nahen Osten, in Afghanistan, in Nigeria. Fast überall ist auch religiöser Fundamentalismus einer der Kriegsgründe“.
Für eine weltweite säkulare Ethik bedürfe es freilich noch weltweiter Forschung. Darüber sei er sich mit vielen Wissenschaftlern einig, vor allem mit Hirnforschern und Pädagogen. Die moderne neurobiologische Forschung lege nahe, dass sich altruistisches und weniger egoistisches Verhalten für alle lohne. Im Gegensatz zu Tieren könnten sich Menschen altruistisch verhalten und auch das Fremde umfassen und sich am Wohlergehen anderer orientieren. Aber dafür bräuchte es noch Aufklärung. Je stärker Menschen daran glaubten, dass sich auch andere altruistisch verhalten, desto eher tun sie es selbst. „Altruismus macht uns einfach glücklicher“.
„Für dieses Forschungsinteresse bin ich vor 20 Jahren noch belächelt worden. Heute wird es zunehmend anerkannt. Wer Altruismus nicht anerkennt, kann nicht verstehen wie Politik und Märkte wirklich funktionieren.“ Im aktuellen Ukraine-Konflikt bedeute das: „Osteuropa braucht Westeuropa und Westeuropa braucht Osteuropa. Also: Redet miteinander. Begreift, dass wir heute im Zeitalter der Globalisierung in e i n e r Welt leben. Das neue Motto muss heißen: Euer Interesse ist unser Interesse. Fundamentalismus ist immer schädlich. Die Konzepte von gestern helfen uns nicht mehr weiter. Gerade für Kinder, also für die Erwachsenen von morgen, ist Ethik wichtiger als Religion. Auch der Klimawandel ist nur global zu lösen. Gewalt und Egoismus sind der grundsätzlich falsche Weg. Die wichtigste Frage für eine bessere Welt heißt: Wie können wir einander dienen? Dafür müssen wir unser Bewusstsein schärfen. Das gilt auch für Politiker“. Wir benötigten positive Geisteszustände. Er übe das täglich viele Stunden. Das sei wichtiger als ritualisierte Gebete. Kinder sollten Moral und Ethik lernen. Das sei hilfreicher als Religion.
Der 79-jährige sagt schließlich zum Abschied: „Kriege im Namen der Religion sind schwer zu ertragen.“ Dann fliegt er von Basel ins norwegische Trondheim und von dort nach Kopenhagen, um weiter für eine neue „säkulare Ethik“ zu werben. Vor einer Woche hat er darüber noch in Washington gesprochen und auch Präsident Obama getroffen. Der Friedensnobelpreisträger von 1989 versteht sich als ein moderner Friedensengel jenseits aller Religionen.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen