- Einsichten und Reflexionen eines Wanderers auf dem Weg nach Innen
- 25. Der Weltgeist im Individuellen Geist
- Nach der allgemeinen Ansicht in den breiten Massen und religiösen Kreisen Indiens wird der höchste Stand der Erleuchtung in einer Art Trance (Samadhi) erlangt. Dies ist nicht die Lehre in den höchsten philosophischen Kreisen Indiens. Es gibt einen weiteren Zustand, «Sahaja-Samadhi», der in wenigen, kaum bekannten Texten beschrieben wird und als höher gilt. Er wird hoch geschätzt, weil er keine Trance erfordert und weil er ein dauernder Zustand ist. Der niedrigere Zustand ist dadurch gekennzeichnet, daß man phasenweise in ihn eingeht und ihn wieder verläßt: Man kann ihn sich nicht bewahren, ohne in die Trance zurückzukehren. Im Gegensatz dazu bleibt der philosophische «vierte Zustand» selbst dann ungebrochen, wenn man in der geschäftigen Welt rege und wach ist.
Der wahre Adept verkauft weder die Geheimnisse seines Wissens noch seine Kräfte zum Gebrauch. Dafür gibt es mehrere Gründe. Der wichtigste ist der, daß er sich selbst schaden würde, denn er würde den Anschluß an die Quelle seines Wissens und seiner Kraft verlieren. Er besitzt diese nicht an sich, sondern weil das höhere Selbst von ihm Besitz ergriffen hat. Von dem Moment an, da er versuchte, weltlichen Profit daraus zu ziehen, würde es sich nach und nach von ihm zurückziehen. Ein weiterer Grund ist der, daß er sein Vorrecht, die reine Wahrheit zu sagen, verlieren würde. In dem Maße, wie er auf Käufer dafür angewiesen wäre, müßte er sie nach ihren Geschmäckern und Vorurteilen modeln und daran anpassen; andernfalls würden sie sie nicht haben wollen. Er müßte sein Wissen ihren Schwächen gemäß umgestalten. Dem Amt, die Wahrheit zu lehren, könnte er nur insoweit nachkommen, als er seine ureigene Pflicht, die Wahrheit zu verwirklichen, vernachlässigte. Denn da er gerade die Wahrheit ohne Bezahlung empfangen hat, muß er auch gerade sie ohne Bezahlung geben. Dies ist das Gesetz, das ihre Verteilung regiert. Jeder, der es verletzt, beweist durch eben diese Übertretung, daß er die Wahrheit in ihrer ganzen leuchtenden Reinheit nicht besitz.
Der Adept wird nicht versuchen, einen anderen Menschen zu beeinflussen, und noch weniger, ihn zu beherrschen. Dazu, einem anderen durch dessen Erleuchtung zu dienen, gehört deshalb nach seiner Auffassung keine Proselytenmacherei, sondern vielmehr das Amt des Lehrens. Ein solcher Dienst hilft einem Menschen, selbst zu verstehen und selbst zu sehen, was er zuvor nicht sehen und verstehen konnte.
Der Adept gebraucht dazu nicht nur die gewöhnlichen Methoden des Redens, des Schreibens und des Beispiels, sondern viel mehr noch außergewöhnliche Methoden, deren sich nur ein Adept bedienen kann. Er versetzt sich gegenüber dem Ich der anderen Person in eine passive Haltung und registriert so Charakter, Denken und Fühlen in einem raschen allgemeinen Eindruck, der sich in seinem Bewußtsein wie eine Photographie auf einem lichtempfindlichen Film niederschlägt. Er begreift ihn als ein Bild der Entwicklungsstufe, die die andere Person erreicht hat, aber er begreift ihn auch als ein Bild des falschen Selbst, mit dem sich die andere Person identifiziert. Einerlei, wie viel Sympathie er für den anderen Menschen empfindet, einerlei, wie negativ die Emotionen oder die Gedanken sind, die er in seinem eigenen Sein wiedergegeben findet, es bleibt ohne Auswirkung auf ihn. Dies kommt daher, daß er über die Begierden und die Illusionen hinausgewachsen ist, die noch über den Geist des anderen Menschen herrschen.
Beim nächsten Schritt seiner Technik zieht er jenes Selbst der Angst um seine unwürdige und letztendlich dem Untergang geweihte Existenz und läßt schließlich das Bild zugunsten des wahren Selbst des Betreffenden fallen, des göttlichen Überselbst. Dann vertreibt er aus seinem Geist jeden Gedanken an die unvollkommene egoistische Verfassung der anderen Person und läßt an seine Stelle die Bejahung ihres wahren spirituellen Selbstseins treten.
Das Überselbst steigt niemals ab oder auf, verliert niemals sein erhabenes Bewußtsein. In Wirklichkeit widerfährt dies einem Etwas, das aus ihm hervorgeht und das demzufolge seine Fähigkeit und Kraft in der Latenz hält, einem Etwas, das aus der Unbegrenztheit des Überselbst ausgegrenzt ist und zunächst die einfache einzelne Lebensgröße und später das komplexe menschliche Ich wird. Es ist nicht das Überselbst, das während dieser langen Entfaltungszeit leidet und ringt, sondern sein Kind, das Ich. Es ist nicht das Überselbst, das langsam seine Intelligenz und sein Bewußtsein erweitert, sondern das Ich. Es ist nicht das Überselbst, das durch Unwissenheit und Leidenschaft, durch Selbstsucht und Extraversion getäuscht wird, sondern das Ich.
Der Glaube mancher Hindusekten an die Einschmelzung des Ich oder mancher buddhistischer Sekten an seine Auslöschung ist unphilosophisch. Das Ich hat sich nach einer langen Entwicklung durch die verschiedenen Naturreiche dem unendlichen Ozean des Geistes ausgesondert und ist eine eigenständige Individualität geworden. Nachdem es so zum Bewußtsein dessen gelangt ist, was es ist, und die Wachstumsspirale vom Keim zum Menschen durchlaufen hat, ist das Ergebnis dieser ganzen Mühe sicherlich nicht nur dazu da, weggeworfen zu werden.
Wenn dies geschähe, wäre die ganze Geschichte der Menschheit sinnlos, ihre ganze Mühe und Plage fruchtlos, ihr ganzes Streben wertlos. Wenn die Evolution lediglich die komplementäre Umkehrung eines Involutionsprozesses wäre, wenn die sich entwickelnde Monade für all ihren Kummer nur wieder am Ausgangspunkt ankäme, dann wäre der ganze Plan unsinnig. Wenn die Reise des Menschen aus nichts anderem bestünde, als vom Zeitpunkt seines Hervorgehens aus dem göttlichen Wesen bis zum Zeitpunkt seiner Wiedereinschmelzung in dieses im Kreis zu marschieren, wäre sie ein müßiges und nutzloses Treiben. Es wäre ein gewaltiges Abenteuer, aber auch ein gewaltig stumpfsinniges. Es hat mit seiner Bewegung ein wenig mehr auf sich. Außer in den Spekulationen gewisser Theoretiker findet es gar nicht statt.
- 26. Die Weltidee
- 27. Der Weltgeist
- Der moderne Mensch sucht an allen unmöglichen Orten nach einem unsichtbaren Gott und will nicht den sichtbaren Gott verehren, den er vor sich hat. Und doch bedarf es nur geringen Nachdenkens, um zu zeigen, daß wir alle an der unerschöpflichen Brust der Natur gesäugt werden. Es ist leicht zu sehen, daß die Quelle alles Lebens die Sonne ist und daß ihre schöpferischen, schützenden und zerstörerischen Kräfte für den gesamten physischen Ablauf des Universums verantwortlich sind. Jedoch ist es nicht die physische Sonne allein, an die sich der Suchende wendet, sondern der Weltgeist hinter ihr. Wir müssen die Sonne als eine wahrhafte Selbstentäußerung und Selbstbekundung des Weltgeistes gegenüber all seinen Geschöpfen betrachten.
- Alle Kräfte der physischen Welt stammen aus einer einzigen Quelle - der Sonnenenergie.
- 28. Das All-Eine
- Wenn dieser Zustand das Denken, ob in Wort oder Bild, transzendiert, warum haben dann so viele Mystiker dennoch soviel darüber geschrieben? Daß sie gleichzeitig die Unmöglichkeit beteuerten, die höchsten Ebenen ihrer Erfahrung zu beschreiben, ändert nichts an dieser eigenartigen Tatsache. Die Antwort auf unsere Frage ist die: Hätten sie volles Stillschweigen bewahrt und nicht enthüllt, daß solch eine einzigartige Erfahrung möglich ist und daß solch eine erhabene Wirklichkeit existiert, so hätte das bedeutet, ihre weniger begnadeten Mitmenschen in völliger Unkenntnis einer ungemein wichtigen Wahrheit über das menschliche Leben und Schicksal zu belassen. Aber wenn sie ein Zeugnis hinterlassen haben, selbst wenn es nur andeutet, was es nicht zureichend beschreiben konnte, dann haben sie etwas Licht in der Finsternis zurückgelassen. Und obwohl eine intellektuelle Darlegung einer überintellektuellen Tatsache nur wie ein indirektes und reflektiertes Licht ist, ist es dennoch besser, als wenn man gar kein Licht hat.
- Solange Menschen das Bedürfnis verspüren, sich mit anderen Menschen über dieses Thema auseinanderzusetzen, solange Meister Schüler darin zu unterweisen suchen und solange begnadete Seher die Pflicht erkennen, für die nicht begnadete Menschheit ein Zeugnis ihrer Erleuchtung zu hinterlassen- sei es auch ein unvollkommenes -, solange wird, dem Buddha zum Trotz, das Schweigen gebrochen und das verlorene Wort aufs neue gesagt werden müssen. Man ist intellektuell weit gekommen, wenn man den Satz verstehen kann, daß Geist der Sucher, aber GEIST das Gesuchte ist.
Im letzten Grad innerer Erfahrung, in der tiefsten Phase der Kontemplation verschwindet der Erfahrende, der Meditierende vergeht, der Erkenner hat keinen erkennbaren Gegenstand mehr - nicht einmal das Überselbst -, denn die Dualität bricht zusammen. Weil dieser Grad über die höchste «Lichterfahrung» hinausgeht, in der das Überselbst seine Gegenwart visuell als eine Masse, eine Säule, eine Kugel oder einen Strahl von überirdischer Leuchtkraft offenbart, die unabhängig davon gesehen wird, ob die leiblichen Augen geöffnet oder geschlossen sind - deswegen ist er die göttliche Finsternis genannt worden.
- Bewußtsein allein ist. Das, worauf es seine Aufmerksamkeit richtet, scheint in dem Augenblick zu existieren: nur das. Wenn auf Leere, dann gibt es nichts anderes. Wenn auf Welt, dann nimmt die Welt Wirklichkeit an.
- Was ist es, das da bewußt ist? Der Gedanke eines Bewußtseinspunktes ist schöpferisch, verleiht auf der niedrigsten Ebene dem Ich Wirklichkeit und auf der höchsten dem höheren Selbst. Aber wenn der Gedanke fallengelassen wird, gibt es nur noch das eine Sein in der göttlichen Leerheit. Er ist daher der Ursprung alles Lebens, aller Intelligenz, aller Form.
- Die gefaßte Idee wird für die Person direkte Erfahrung, das Bewußtsein wird direkte Wahrnehmung.
Wieder zurück in der Welt, erforscht er sie abermals in diesem neuem Licht, bestätigt, daß die vielfältige Welt letztlich aus geistigen Bildern besteht, verbindet das mit seiner vollen metaphysischen Erkenntnis, daß sie einfach Geist in der Offenbarung ist, und lernt so begreifen, daß sie ihrem Wesen nach eins mit demselben Geist ist, den er in der Selbstversenkung erlebt. So bezeugt und erfährt seine Einsicht diesen Geist an sich als die Sinnenwelt und nicht als von ihr getrennt, während der Mystiker sie trennt. Bei der Einsicht zerstört das Gefühl der Einheit nicht das Gefühl des Unterschieds, sondern beide bleiben seltsam gewahrt, während bei der gewöhnlichen mystischen Erfahrung eines das andere aufhebt. Die Myriaden von Formen, die das Bild dieser Welt zusammensetzen, verschwinden nicht als ein Wesensmerkmal der Wirklichkeit, noch wird das Bewußtsein von ihnen oder der Umgang mit ihnen beeinträchtigt. Daher ist der vom Philosophen erreichte Stand, auf dem er die Einsicht in den reinen Geist sogar unter dem Ansturm physischer Sinneseindrücke fortwährend besitzt, fest und endgültig.
Er erachtet alles in dieser mannigfaltigen Welt genauso selbstverständlich für nichts anderes als den Geist, wie er jedesmal dann, wenn er sich in die Selbstversenkung kehren möchte, das Nichts, die bildlose Leere für nichts anderes als den Geist erachten kann. Er erachtet sowohl die äußeren Gesichter aller Menschen als auch die inneren Tiefen seines eigenen Selbst für nichts anderes als den Geist. So erfährt er die Einheit alles Seienden; nicht zeitweise, sondern in jedem Augenblick erkennt er den Geist als das Höchste und Letzte.
Dies ist die philosophische oder endgültige Erkenntnis. Sie ist so bleibend, wie die des Mystikers vorübergehend ist. Was er auch tut oder unterläßt, was er erlebt oder nicht erlebt, er läßt sämtliche Unterscheidungen zwischen Wirklichkeit und Schein, zwischen Wahrheit und Illusion sein und läßt seiner Einsicht freien Lauf, da seine Gedanken nichts auswählen und sich an nichts klammern. Er erlebt das Mirakel undifferenzierten Seins, das Wunder unterschiedsloser Einheit. Die künstlichen, von Menschen geschaffenen Grenzen schmelzen dahin. Er erachtet seine Mitmenschen für so unweigerlich und wesenhaft göttlich, wie sie es wirklich sind, und nicht bloß für die weltlichen Geschöpfe, für die sie sich halten, so daß alle Spuren einer asketischen Haltung nach dem Motto: «Ich bin heiliger als du», völlig von ihm abfallen.
Es gibt nur einen Gott, ein Leben, eine unendliche Kraft, einen allwissenden Geist. Jeder Mensch individualisiert ihn, aber vervielfältigt ihn nicht. Er bringt ihn auf einen Punkt, das Überselbst, aber beseitigt nicht seine Einheit und ändert nicht seinen Charakter.
Wir stehen ständig vor dem altehrwürdigsten aller Probleme: «Warum trat dieses Universum aus der Tiefe und Finsternis des absoluten Geistes hervor?» Der Seher kann uns ein Bild der Art und Weise bieten, wie dieser Geist sich in die Materie eingefaltet hat und sich wieder zurück zur Selbsterkenntnis entfaltet. Das ist nur das Wie und nicht das Warum der Welt. Die Wahrheit ist, daß nicht nur nie jemand die letzte und grundsätzliche Absicht der Schöpfung gekannt hat, kennt oder jemals kennen wird, sondern daß nicht einmal Gott selbst sie kennt - denn auch Gott ist nicht minder aus dem Absoluten hervorgegangen als das Universum, ist selbst eine Emanation aus der urtümlichen Finsternis und der vollkommenen Stille. Sogar Gott muß sich damit zufrieden geben, dem Fließen zuzusehen und nicht nach dem Warum zu fragen, denn Gott und Mensch müssen beide verschmelzen und aufgesogen werden, wenn sie zum letzten Mal vor dem Absoluten stehen. (In der Symbolsprache der Bibel: «Denn kein Mensch kann Gott von Angesicht zu Angesicht sehen und leben.»)
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