Vergessen wir den Lauf der Zeiten,
vergessen wir die Zwietracht der Meinungen.
Wenden wir uns an die Unendlichkeit,
beziehen wir dort unsere Stellung.
~Zhuangzi
... "Stell dir vor, ein Typ sitzt in einem Kino, weiß aber nicht recht, das er im Kino ist. Von seinem Platz aus kann er nur die Leinwand sehen - nicht die anderen Sitzplätze, nicht die andern Besucher, nur die Leinwand. Außerdem ist er festgekettet. Er kann sich nicht bewegen, kann sich nicht umdrehen. Sein Kopf und Körper liegen vollständig in Ketten. Sei ganzes Leben lang befindet er sich in diesem Kino. Es ist die einzige Realität, die er kennt - einfach dazusitzen, Bilder auf der Leinwand zu betrachten und den Geräuschen aus den Lautsprecherboxen zu lauschen. Das ist alles was er von der Realität weiß."
..."Hast du schon mal was von der bewussten Ausschaltung des Zweifels gehört?
Es ist das worauf du dich jedes Mal einlässt, wenn du ins Kino gehst. Du bist bereit dazu, deine Kritikfähigkeit zu lockern und dir den Film reinzuziehen. Du weißt, es ist aber nicht die Wirklichkeit, sondern nur ein Film, aber trotzdem bleibst du 2 Stunden lang sitzen und lässt es dir nicht nehmen, alles für bare Münze zu nehmen. Du schaltest deine Zweifel aus und gehst eine innere Beziehung mit den Darstellern und deren Nöten ein, versetzt dich in die hinein. Der Film ist andererseits dazu angelegt, deinen Glauben nicht überzustrapazieren, also nicht allzu sehr ins Unglaubwürdige abzudriften."
..."So wie bei einer Phantasiereise?"
"Genau. Wenn der Film aus vorbei ist, trittst du hinaus ins grelle Licht der Wirklichkeit und unterdrückst deine Zweifel nicht mehr."
"Ok, der Typ, von dem wir geredet haben, sitzt da, sieht sich den Film an, geht total darin auf und meint, das wäre alles, was das Leben zu bieten hat. Er zweifelt nicht. Er ist eine gefühlsmäßige Beziehung mit den Filmfiguren und dem Geschehen auf der Leinwand eingegangen. Was soll er denn anderes wissen? Die Bilder auf der Leinwand sind seine Realität, sie verkörpern sein Leben.
Eines Tages jedoch, aus irgendeinem Grund, fällt der Blick auf die Ketten, und er bemerkt, dass ihre Schlösser gar nicht richtig eingerastet sind. Er ist gar nicht gefangen, dass alles war nicht als eine Täuschung, die er niemals anzweifelte."
"Cool."
"Genau, dass denkt er auch, aber es ist nicht nur cool, sondern auch zugleich auch beängstigend. Also befreit er sich aus den Fesseln, steht auf und blickt zum ersten Mal in seinem Leben um sich. Und wie er sich so umsieht, dämmert ihm allmählich, dass es noch eine andere Ebene der Realität gibt, von der er bislang nichts wusste. Und so macht er sich Gedanken über die Bilder auf der Leinwand, die er stehts ohne den geringsten Zweifel für die Realität hielt. Er blickt sich um, er sieht die flirrenden Lichter über sich und versucht herauszufinden, wo sie herkommen, versucht deren Quelle ausfindig zu machen."
"DEN VORFÜHRRAUM."
"Richtig. Also, was ist bis jetzt geschehen? Unser Typ hat sich selbst von seiner Illusion befreit, und er ist in eine unfassbare Realität hinein erwacht. Ja?"
"Ja."
"Er lässt seine Blicke im Kino umherschweifen, um diese neue, wirklichere Wirklichkeit zu erkunden.
In diesem dunklen Kino hat er die ganze Zeit über nur dem Spiel des Lichts zugesehen, ja? Dem Licht, dass von der Leinwand reflektiert wird. Nun aber kennt er die Quelle dieses Lichts, die Quelle all jener Bilder, die er fälschlich für die Realität hielt. Deshalb identifiziert er sich jetzt mit dem Vorführraum als wahrem Ursprung der Realität, denn er weißt ja, von dort kommt das Licht. Es ist das einzige Licht weit und breit.
Du weißt worum es hier geht? Dieser Typ befindet sich in den ersten Stadien der Befreiung und der Wahrheitsfindung. Er erkennt, dass das, was er so lange für die Wirklichkeit hielt, nur zweidimensional ist, ein Lichteffekt, ein Spiel von Licht und Schatten. Nun hat er den Schleier gelüftet und den Zauberer entlarvt.
Er nimmt nun all seinen Mut zusammen und sieht sich im Kino um. Du kannst dir vielleicht denken, dass es eine Zeit lang dauert, bis er sich an diese neue, weit umfassendere, weit reichhaltigere Realität gewöhnt hat. Es dauert ein wenig, bis seine Muskeln und Sinne sich damit vertraut gemacht haben, ganz zu schweigen von der emotionalen Wucht der Tatsache, dass sein Leben bis auf den heutigen Tag nichts als ein Trugbild war.
...Vielleicht bemerkt er auch, dass man über den Gang zu einer Tür gelangt und das unter dieser Tür ein Schimmer von Licht ins Innere des Kinos drängt. Vielleicht bemerkt er es, vielleicht auch nicht."
"Wenn er den ersten Schreck überwunden und sich an seine neue Realität gewöhnt hat, fällt ihm auf, dass das Kino eigentlich ziemlich groß ist und dass da noch mehr Leute sitzen wie er, die mit dem unterschiedlichsten Dingen beschäftigt sind."
Nochmal ein Schwenk ins Kino
"Als der Typ seine Ketten abgestreift hatte und aufstand, war eines der ersten Dinge, die ihm auffielen, dass das ganze Kino voll mit anderen Leuten war, all jenen Leuten, die er liebte und die ihm wichtig waren, und alle konnten sie sich nicht bewegen, aufgrund der Ketten, deren Schlösser in Wahrheit aber gar nicht eingerastet waren, und alle betrachteten die die gleichen Bilder auf der Leinwand, als gäbe es nur diese Bilder und nichts anders. Klar?"
"Klar."
"Was tut er da?"
Die Antwort kam prompt. "Er versucht, ihnen zu helfen. Versucht sie dazu zu bewegen, ebenfalls aus dieser Zwickmühle herauszukommen. Ebenfalls aufzuwachen. Sie sollen sich ihrer Ketten entledigen und um sich blicken. Sie sollen erkennen, was wirklich Sache ist."
"Hast du das auch getan?"
"Ja, irgendwie schon. Da begann ich mich mal zu fragen, ob ich nicht durchdrehe. Ich versuchte allen zu berichten. Sie reagieren beinah alle, als sei ich eine Bedrohung."
"Nur eine kleine Warnung. Die Leute mögen es absolut nicht, wenn jemand kommt uns sich in ihre ganz persönliche Realität einmischt. Du kannst es gern versuchen, wenn es noch irgendwie in dir steckt, aber dann solltest du dich auf einige unliebsame Folgen gefasst machen."
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