Über das Verletztsein – Teil 1
A. W. Anderson: Während unserer Gespräche ist
mir eines besonders stark aufgefallen. Einerseits haben wir über unsere
gestörte Beziehung zum Denken und Wissen gesprochen, aber nicht ein
einziges Mal haben Sie gesagt, dass wir uns vom Denken freimachen
sollten. Daher kommen wir zur Frage der rechten Beziehung zwischen
Intelligenz und Denken, zur Frage, was eine schöpferische Beziehung
zwischen Intelligenz und Denken aufrecht erhält – vielleicht
frühzeitliche Handlungen, die noch fortdauern. Stimmen Sie darin mit mir
über ein, dass in der Geschichte der Menschheit der Begriff Gott aus
unserer Beziehung zu dieser fortdauernden Handlung entwickelt wurde? Das
wirft die Frage nach der Religion selbst auf.
Krishnamurti: Wörter wie Religion, Liebe oder Gott
haben fast ihre ganze Bedeutung verloren. Man hat diese Worte
ungeheuerlich missbraucht und die Religion ist zu einem gewaltigen
Aberglauben geworden, zu einer Kombination aus Propaganda, unfasslichen
Überzeugungen, Aberglaube und Anbetung selbstverfertigter Bilder. Wenn
wir also über Religion sprechen, möchte ich bitte klarstellen, dass wir
beide das Wort Religion in seinem eigentlichen Sinn verwenden, und weder
im christlichen, noch im hinduistischen, noch im buddhistischen, noch
im moslemischen Sinne, noch hat das irgendetwas mit all diesen dummen
Dingen zu tun, die hier in Amerika und anderswo im Namen der Religion
stattfinden.
Für mich bedeutet das Wort Religion jedwede Energie
zu sammeln, und zwar auf allen Ebenen, physisch, moralisch und
spirituell, so dass daraus große Aufmerksamkeit entsteht. In solcher
Aufmerksamkeit gibt es keine Grenze und von dort aus müssen wir uns in
Bewegung setzen. Für mich ist dieses die Bedeutung des Wortes Religion:
Das Zusammenbringen aller Energie, um das zu verstehen, was das Denken
unmöglich erfassen kann. Das Denken ist niemals neu, niemals frei und
daher immer geprägt und fragmentarisch. Religion ist also nichts, das
durch Denken, Angst oder durch die Jagd nach Befriedigung und Vergnügen
zusammengesetzt würde, sondern etwas, das völlig darüber hinausgeht, das
nichts zu tun hat mit Romantik, Spekulation, Glauben oder
Sentimentalität. Und ich meine, wir sollten uns an die Bedeutung dieses
Wortes halten und all den abergläubischen Unsinn ablegen, der im Namen
der Religion überall auf der Welt stattfindet, die zu einem wahren
Zirkus geworden ist, so schön er auch sein mag. Dann könnten wir von
dort aus beginnen, denke ich, wenn Sie der Bedeutung dieses Wortes
zustimmen.
A. W. Anderson: Während Sie sprachen, dachte ich
daran, dass es in der biblischen Tradition Aussagen der Propheten gibt,
die auf das, was Sie sagen, hinzuweisen scheinen. Diese Dinge kommen
mir in den Sinn, wenn Jesaja in der Rolle des Weissagers sagt: »Meine
Gedanken sind nicht Eure Gedanken, meine Wege sind nicht Eure Wege, so
entfernt wie der Himmel von der Erde sind meine Gedanken von Euren
Gedanken, hört also auf, in dieser Weise über mich zu denken. Und
versucht nicht, einen Weg zu mir zu finden, den Ihr nur erdacht habt, da
meine Wege höher sind als Eure.« Und während Sie über den Akt der
Aufmerksamkeit sprachen, über dieses Zusammenbringen aller Energien des
ganzen Menschen, da dachte ich an diesen sehr einfachen Satz: »Sei ganz
einfach still und wisse, dass ich Gott bin. Sei still.« Wenn man an die
Geschichte der Religion denkt, ist es doch höchst erstaunlich, wie wenig
Aufmerksamkeit der Stille im Vergleich zu Ritualen geschenkt wurde.
Krishnamurti: Also ich glaube, die Priester tauchten
auf, als wir die Berührung mit der Natur, mit dem Universum, mit den
Wolken, Seen und den Vögeln verloren hatten. Da begannen Aberglaube,
Ängste und Ausbeutung. Die Priester wurden die Vermittler zwischen dem
Menschen und dem sogenannt Göttlichen. Mir wurde gesagt, dass in der
ersten Rig Veda Gott überhaupt nicht erwähnt wird. Es gibt nur die
Anbetung von etwas Unermesslichem, das sich in der Natur, der Erde, den
Wolken, den Bäumen und durch die Schönheit des Schauens ausdrückt. Aber
dieses Ganz-einfach-Sein, behaupteten die Priester, ist zu einfach,
lasst es uns etwas komplizieren. Und so begann es. Ich glaube, es ist
von den Alten Veden bis in die heutige Zeit hinein zu verfolgen, wie die
Priester die Interpreten, die Vermittler, die Erklärenden, die
Ausbeuter wurden, diejenigen, die darüber bestimmten, was richtig und
was falsch ist. »Du musst dies glauben oder du wirst verdammt.« Der
Priester erzeugte Angst, nicht Anbetung von Schönheit, nicht Anbetung
des heil und ohne Konflikt gelebten Lebens. Er erzeugte etwas, das sich
außerhalb, jenseits und oberhalb befindet, und das er als Gott
betrachtete, und wofür er dann Propaganda machte.
Ich glaube also, wir sollten von Anfang an das Wort
Religion auf die einfachste Weise benutzen, das heißt als Sammeln aller
Energie, so dass sich vollkommene Achtsamkeit ergibt. In dieser Qualität
der Achtsamkeit entsteht das Unermessliche. Wie wir neulich sagten, ist
das Messbare das Mechanische. Der Westen hat es kultiviert, indem er
wunderbare Dinge hervorgebracht hat: Technische, physikalische,
medizinische, biologische, naturwissenschaftliche. Was aber die Welt
gleichzeitig auch oberflächlich, mechanisch, weltlich und
materialistisch gemacht hat. Und das breitet sich über die ganze Welt
aus. Und als Reaktion auf dieses materialistische Verhalten gibt es all
diesen Aberglauben, diese inhaltslosen und unsinnigen Religionen. Da ist
diese Absurdität der aus Indien kommenden Gurus, die hier im Westen
lehren, wie man meditieren und den Atem anhalten soll. Sie sagen: »Ich
bin Gott, betet mich an.« Es ist so absurd, so kindisch, so äußerst
unreif. All das zeigt uns den Verfall des Wortes Religion und des
menschlichen Verstandes, der diese Art von Zirkus und Schwachsinn
akzeptieren kann.
https://www.jkrishnamurti.de/ALn11-1.1039.0.html
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