Der Buddha lehrte 84 000 verschiedene Arten, negative Emotionen zu zähmen und zur Ruhe zu bringen, und der Buddhismus kennt unzählige Meditationsmethoden. Ich stelle hier drei davon vor, die ich als besonders wirkungsvoll für die heutige Zeit empfunden habe, und die jeder nutzbringend anwenden kann. Es handelt sich um das "Beobachten des Atems, die Ausrichtung auf ein Objekt und die Rezitation eines Mantra.
I. Den Atem "beobachten"
Die erste Methode ist uralt und in allen Schulen des Buddhismus zu finden. Hier geht es darum, die Aufmerksamkeit sanft und achtsam auf dem Atem ruhen zu lassen.
Atem ist Leben, der einfachste und grundlegendste Ausdruck unseres Lebens. Im Judentum steht Ruah, Atem, für den Geist Gottes, der die Schöpfung inspiriert, und auch im Christentum besteht eine tiefe Verbindung zwischen dem Heiligen Geist, ohne den nichts leben könnte, und dem Atem. In den Lehren des Buddha gilt der Atem, oder Prana auf Sanskrit, als das "Fahrzeug des Geistes", weil Prana unserem Geist Beweglichkeit verleiht. Wenn Sie also den Geist beruhigen, indem Sie geschickt mit dem Atem arbeiten, schulen und zähmen Sie ihn gleichzeitig ganz automatisch. Haben wir nicht alle schon einmal die Erfahrung gemacht, wie entspannend es inmitten des hektischen und stressigen Lebens manchmal sein kann, für ein paar Minuten allein zu sein und einfach tief und ruhig ein- und auszuatmen? Schon eine so einfache Übung kann uns sehr helfen.
Wenn Sie meditieren, atmen Sie ganz natürlich, so wie immer. Richten Sie die Aufmerksamkeit sanft auf das Ausatmen. Wenn Sie ausatmen, fließen Sie einfach mit dem Atem. Jedesmal, wenn Sie ausatmen, lassen Sie los und befreien all Ihr Greifen und Festhalten. Stellen Sie sich vor, daß sich Ihr Atem in den allumfassenden Raum der Wahrheit auflöst. Jedesmal, wenn Sie ausgeatmet haben und bevor Sie wieder einatmen, finden Sie eine ganz natürliche Lücke - wenn das Greifen sich löst. Ruhen Sie in dieser Lücke, in diesem offenen Raum. Und wenn Sie dann ganz natürlich wieder einatmen, konzentrieren Sie sich nicht speziell auf das Einatmen, sondern lassen den Geist wieder in der Lücke ruhen, die sich aufgetan hat.
Es ist wichtig, daß Sie sich während der Übung nicht auf mentales Kommentieren, Analysieren oder inneres Geschwätz einlassen. Verwechseln Sie den ständigen Kommentar in Ihrem Geist ("Jetzt atme ich ein, jetzt atme ich aus...") nicht mit Achtsamkeit; wichtig ist die reine Präsenz.
Konzentrieren Sie sich auch nicht zu sehr auf den Atem; widmen Sie ihm etwa 25 Prozent Ihrer Aufmerksamkeit, die restlichen 75 Prozent bleiben ruhig, weit offen und entspannt.
Je achtsamer Sie dem Atem gegenüber werden, desto mehr sind Sie in der Gegenwart; Sie bringen die Fragmente, in die Sie zersplittert werden, wieder zu einer Ganzheit zusammen.
Indem Sie dann darüber hinausgehen, den Atem zu "beobachten", identifizieren Sie sich allmählich mit ihm, als würden Sie selbst zum Atem. Langsam werden der Atem, das Atmen und der Atmende eins -Dualität und Trennung lösen sich auf. Dieser einfache Prozess der Achtsamkeit wird Ihre Gedanken und Emotionen filtern. Dann schält sich etwas ab wie eine alte Haut, und Sie werden frei.
Manche Menschen können sich allerdings in der Atembeobachtung nicht entspannen, fühlen sich mit dieser Übung nicht wohl und empfinden sie als beengend. Für sie kann die nächste Technik hilfreich sein.
II. Die Ausrichtung auf ein Objekt
Eine zweite Methode, die von vielen als sehr hilfreich empfunden wird, besteht darin, den Geist sanft auf einem Objekt ruhen zu lassen. Sie können einen Gegenstand von natürlicher Schönheit nehmen, der ein Gefühl der Inspiration in Ihnen erweckt, zum Beispiel eine Blume oder einen Kristall. Allerdings ist ein Objekt, das die Wahrheit verkörpert, wie ein Bild von Buddha oder Christus oder ganz besonders ein Bild Ihres Meisters oder Ihrer Meisterin von ganz besonderer Kraft. Ihr Meister ist Ihre lebendige Verbindung zur Wahrheit, und eben wegen dieser persönlichen Beziehung verbindet Sie der blofle Anblick seines Gesichtes mit der Inspiration und der Wahrheit Ihrer eigenen Natur.
Viele Menschen spüren eine ganz besondere Verbindung mit dem Bild der sogenannten "Siehtauswieich-Statue" von Padmasambhava, die im achten Jahrhundert nach seinem lebenden Vorbild gefertigt und dann von ihm selbst gesegnet worden ist. Padmasambhava hat mit der enormen Kraft seiner spirituellen Persönlichkeit die Lehren des Buddha nach Tibet gebracht. Er ist als der "zweite Buddha" bekannt und wird von den Tibetern liebevoll "Guru Rinpoche", "kostbarer Meister", genannt.
Dilgo Khyentse Rinpoche hat gesagt: "Es hat viele unvergleichliche Meister in Indien und in Tibet, dem Land des ewigen Schnees, gegeben; von ihnen allein bringt jedoch Padmasambhava den Wesen dieses schwierigen Zeitalters am meisten Mitgefühl und Segen entgegen. Er verkörpert das Mitgefühl und die Weisheit aller Buddhas. Eine seiner Eigenschaften ist, daß er die Kraft besitzt, seinen Segen augenblicklich jedem zu gewähren, der ihn darum bittet; und welches Anliegen man auch haben mag - er hat die Kraft, unseren Wunsch augenblicklich zu erfüllen."
Stellen Sie mit diesem Wissen sein Bild in Augenhöhe vor sich auf und richten Sie Ihre Aufmerksamkeit ruhig auf sein Gesicht, besonders auf den Ausdruck seiner Augen. Es ist eine tiefe Stille und Präsenz in seinem Blick, die Sie aus dem Foto fast anspringen und Sie in den Zustand eines Gewahrseins ohne Haften bringen können, den Zustand der Meditation. Dann lassen Sie den Geist einfach still und friedlich bei Padmasambhava.
III. Rezitation eines Mantra
Eine dritte Technik, die im tibetischen Buddhismus sehr häufig angewendet wird (wie auch im Sufismus, orthodoxen Christentum und Hinduismus), ist das Zusammenbringen des Geistes mit dem Klang eines Mantra. Die Definition von Mantra lautet "Das, was den Geist schützt". Das, was den Geist vor Negativität schützt, oder was Sie vor Ihrem eigenen Geist schützt, wird Mantra genannt.
Wenn Sie nervös, desorientiert oder emotional unstabil sind, kann das inspirierende Singen oder Rezitieren eines Mantra Ihren Zustand völlig verändern, indem es Energie und Atmosphäre des Geistes verwandelt. Wie ist das möglich? Ein Mantra ist die Essenz von Klang und die Verkörperung der Wahrheit in der Form von Klang. Jede Silbe ist durchdrungen von spiritueller Kraft, verdichtet eine tiefe spirituelle Wahrheit. Ein Mantra bringt den Segen der Sprache aller Buddhas zum Schwingen. Man sagt auch, daß der Geist auf der feinstofflichen Energie des Atems (Prana) "reitet", die durch die feinstofflichen Kanäle des Körpers zirkuliert. Wenn Sie also ein Mantra singen, laden Sie den Atem und damit auch diese Energie mit der Kraft des Mantra auf und arbeiten auf diese Weise direkt mit dem Geist und dem feinstofflichen Körper.
Das Mantra, das ich meinen Schülern empfehle, lautet OM AH HUM VAJRA GURU PADMA SIDDHI HUM (die Tibeter sprechenes OmAh Hung Benza Guru Pema Siddhi Hung). Das ist das Mantra von Padmasambhava, das Mantra aller Buddhas, Meister und verwirklichten Wesen, und es ist außerordentlich kraftvoll und wirksam für Frieden, Heilung, Transformation und als Schutz in diesem von Gewalt geschüttelten, chaotischen Zeitalter. Rezitieren Sie das Mantra ganz leicht, mit tiefer Aufmerksamkeit, und lassen Sie Atem, Mantra und Gewahrsein langsam eins werden. Oder singen Sie es in einer inspirierenden Melodie und ruhen Sie dann in der ganz besonderen Stille, die manchmal darauf folgt.
Selbst nach einem ganzen Leben an Erfahrung mit dieser Praxis, versetzt mich die Kraft des Mantra manchmal immer noch in Erstaunen. Vor einigen Jahren leitete ich in Lyon einen Kurs mit dreihundert Menschen, hauptsächlich Hausfrauen und Therapeuten. Ich hatte schon den ganzen Tag gelehrt, aber sie schienen ihre Zeit mit mir wirklich ausnutzen zu wollen und stellten mir pausenlos eine Frage nach der anderen. Gegen Ende des Nachmittags war ich völlig ausgelaugt, und eine schwere, dumpfe Atmosphäre hatte sich ̧ber den Raum gelegt. Da sang ich ein Mantra, genau das Mantra, das ich oben vorgestellt habe. Die Wirkung war erstaunlich: In ein paar Augenblicken war meine ganze Energie wiederhergestellt, die Atmosphäre um uns hatte sich gewandelt und das gesamte Publikum schien wieder freudig und inspiriert. Ähnliche Erfahrungen habe ich immer und immer wieder gemacht, und daher weiß ich, daß es nicht nur ein zufälliges "Wunder" war!
Der Geist in der Meditation
Was soll man "tun" mit dem Geist in der Meditation?
Überhaupt nichts. Lassen Sie ihn einfach, wie er ist. Ein Meister beschrieb Meditation als "Geist, schwebend im Raum, nirgendwo".
Ein bekanntes Sprichwort sagt: "Wenn der Geist ungekünstelt bleibt, ist er von selbst glückselig, so wie Wasser, das nicht aufgewühlt wird, von Natur aus durchsichtig und klar ist. "Ich vergleiche den Geist in der Meditation oft mit einem Gefäß voll schlammigen Wassers: Je weniger wir das Wasser aufrühren, desto mehr Teilchen sinken auf den Grund und um so offensichtlicher wird die natürliche Klarheit des Wassers. Auch die Natur des Geistes ist so beschaffen, daß er - in seinem unveränderten und natürlichen Zustand belassen - von selbst zu seiner eigenen, wahren Natur von Glückseligkeit und Klarheit findet.
Hüten Sie sich also davor, dem Geist etwas vorzuschreiben oder ihn einzuengen. Wenn Sie meditieren, sollten Sie sich nicht um Kontrolle mühen und auch keinen Versuch machen, friedvoll zu sein. Seien Sie nicht übermäßig feierlich, weil Sie glauben, an einem besonderen Ritual teilzunehmen; lassen Sie selbst die Vorstellung fallen, daß Sie überhaupt meditieren. Lassen Sie den Körper, wie er ist, und den Atem sich selbst finden. Fühlen Sie sich wie der Himmel, der das ganze Universum hält.
Sogyal Rinpoche
Das tibetische Buch vom Leben und Sterben || Ein Schlüssel zum tieferen Verständnis von Leben und Tod
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