Die drei Samen
Vor
langer Zeit machte sich der Stamm der Menschheit auf eine lange Reise
an einen Ort, genannt Separation. Sie war kein Fehler, wie manche
vielleicht denken, wenn sie ihre Spur der Verwüstung auf dem Planeten
sehen; sie war auch kein Niedergang und ebensowenig Ausdruck eines
besonders der menschlichen Spezies angeborenen Bösen. Es war eine Reise
mit einem Ziel: die Extreme der Separation zu erfahren, die Fähigkeiten
zu entwickeln, die in der Reaktion darauf entstehen, und das alles in
einem Zeitalter der Wiedervereinigung zu integrieren.
Aber
wir wussten von Beginn an, dass in dieser Reise eine Gefahr lag: uns in
der Separation zu verlieren und nie wieder zurückzukommen. Wir
riskierten, uns von der Natur so stark zu entfremden, dass wir unsere
eigene Lebensgrundlage zerstören; wir riskierten, voneinander so
gründlich abgeschnitten zu werden, dass unsere armen Egos, nackt und zu
Tode erschrocken, unfähig sein würden, sich wieder der Gemeinschaft
alles Seienden anzuschließen. Mit anderen Worten, wir sahen die Krise
vorher, vor der wir heute stehen.
Aus
diesem Grund pflanzen wir vor tausenden von Jahren drei Samen, die zu
keimen beginnen würden, wenn unser Weg in die Separation sein Äußerstes
erreichen würde. Drei Samen, drei Überlieferungen von der Vergangenheit
an die Zukunft, drei Wege, um die Wahrheit über die Welt, das Selbst und
das Wissen, wie man Mensch ist, zu bewahren und zu überliefern.
Stellen
Sie sich vor, Sie lebten vor dreißigtausend Jahren und hätten eine
Vision von allem, was kommen würde: symbolische Sprache, das Benennen
und Katalogisieren der Welt; die Landwirtschaft, die Zähmung des Wilden,
die Herrschaft über die anderen Arten und das Land; die “Maschine”, die
Beherrschung der Naturkräfte; das Vergessen, wie schön und perfekt die
Welt ist; die Atomisierung der Gesellschaft; eine Welt, in der Menschen
sich sogar fürchten, aus den Bächen und Flüssen zu trinken, in der wir
unter Fremden leben und nicht einmal die Menschen nebenan kennen, in der
wir mit einem Knopfdruck auf der ganzen Welt töten können, in der sich
die Meere schwarz färben und die Luft unsere Lungen verbrennt, in der
wir so gebrochen sind, dass wir es gar nicht mehr wagen uns zu erinnern,
dass es so nicht sein sollte. Stellen Sie sich vor, Sie sahen das alles
kommen. Wie würden Sie den Menschen in dreißigtausend Jahren helfen?
Wie würden Sie Information, Wissen und Hilfe über eine so große
Zeitkluft schicken? Vielleicht ist es wirklich so geschehen. So kommt
es, dass wir die drei Samen haben.
Der
erste der Samen sind die Weisheitstraditionen: Traditionen, die
tausende Jahre zurück reichen, die essentielles Wissen bewahrten und
beschützten. Vom Meister an den Schüler, überall auf der Welt, gaben
verschiedene Weisheitstraditionen ihre Lehren im Geheimen weiter. Hüter
der Weisheit, Sufis, Zen-Meister, Kabbalisten, taoistische Magier,
christliche Mystiker, Hindu-Swamis, und viele anderen versteckten sich
in jeder der Religionen und bewahrten das Wissen sicher für die Zeit, in
der die Welt bereit sein würde, es sich wieder anzueignen. Diese Zeit
ist jetzt, und sie haben ihre Aufgabe gut gemacht. Viele spirituellen
Lehrer, selbst der Dalai Lama, sagen, dass die Zeit der Geheimnisse
jetzt vorbei ist. Zu früh veröffentlicht wurde das Wissen vereinnahmt,
missbraucht oder meist einfach ignoriert. Als wir noch nicht das
Territorium der Separationdurchmessen hatten, als wir immer noch damit beschäftigt waren, unsere Eroberung der Natur voranzutreiben, als die Geschichte vom Aufstieg der Menschheit
noch nicht abgeschlossen war, waren wir noch nicht bereit, von
Wiedervereinigung, Verbundenheit, Interdependenz und Interbeing zu
hören. Wir glaubten, die Antwort wäre mehr Kontrolle, mehr Technologie,
mehr Logik, eine besser konzipierte Gesellschaft basierend auf
rationaler Ethik, mehr Kontrolle über Materie, Natur, und die
menschliche Natur. Aber jetzt versagen die alten Paradigmen, und das
Bewusstsein der Menschheit hat einen Grad an Aufnahmefähigkeit erreicht,
der es diesem Samen erlaubt, sich über die ganze Erde zu verbreiten. Er
wurde ausgebracht und keimt allerorts in uns.
Der
zweite Samen waren die heiligen Geschichten: Mythen, Legenden, Märchen,
Folklore und die ewigen Themen, die immer wieder in verschiedener
Gestalt überall in der Geschichte auftauchen. Sie waren immer bei uns,
auf dass wir, so weit wir uns auch in das Labyrinth der Separation
hineinwagten, immer einen Rettungsfaden zur Wahrheit hatten, so zart und
verworren er auch war. Die Geschichten nähren diesen kleinen
Erinnerungsfunken in uns, der unsere Herkunft und unser Ziel kennt. Die
Altvordern, die wussten, dass die Wahrheit vereinnahmt und verzerrt
werden würde, wenn sie unverschlüsselt bliebe, verstauten sie in den
Geschichten. Hören oder lesen wir diese Geschichten, so beeinflussen sie
uns auf einer unbewussten Ebene, selbst wenn wir die Symbolik nicht
entschlüsseln können. Mythen und Märchen stellen eine sehr ausgeklügelte
psychologische Taktik dar. Jede Generation von Geschichtenerzählern
transportiert, ohne es zu beabsichtigen, die versteckte Weisheit, die
sie selbst unbewusst über jene Geschichten erfuhren, die ihnen erzählt
wurden.
Ohne
direkt den Mustern von Separation und Aufstieg zu widersprechen,
schmuggelten unsere Geschichten und Mythen ein ganz anderes Verständnis
von Wirklichkeit ein. Unter dem Vorwand “es ist ja nur eine Geschichte,”
überliefern sie eine emotionale, poetische und spirituelle Wahrheit,
die der linearen Logik, dem Reduktionismus, Determinismus und der
Objektivität widerspricht. Ich meine hier nicht moralistische
Erzählungen. Von ihnen überbringen die meisten wenig Wahrheit. Um den
zweiten Samen zu überliefern, müssen wir uns unseren Geschichten
bescheiden hingeben und dürfen nicht versuchen, sie für unsere eigenen
moralistischen Zwecke umzubiegen. Sie wurden von Wesen geschaffen, die
viel weiser waren als unser modernes Selbst. Wenn Sie Geschichten
erzählen oder überliefern, behandeln Sie ihre ursprüngliche Form
respektvoll, und verändern Sie sie nicht, solange nicht wirklich eine
poetische Aufwallung Sie dazu drängt. Achten Sie darauf, welche
Kinderliteratur sich wie eine wahre Geschichte anfühlt. Der Großteil der
modernen Kinderliteratur tut es nicht. Sie können eine wahre Geschichte
an der Art und Weise erkennen, wie ihre Bilder im Kopf nachklingen. Sie
prägt sich in die Psyche ein. Man bekommt das Gefühl, dass neben der
Handlung noch etwas anderes übermittelt wurde, etwas Unsichtbares. Meist
sind solche Geschichten reich an Symbolen, die oft sogar ihren
Verfassern nicht bekannt sind. Ein Vergleich zwischen zwei Kinderbüchern
aus dem 20. Jahrhundert illustriert, was ich meine: Vergleichen Sie
eine Geschichte von den Berenstain Bears mit der Geschichte “Wie der
Grinch Weihnachten gestohlen hat”. Nur letztere hat, was den Geist einer
wahren Geschichte kennzeichnet, Bestand in der Psyche und ist reich an
archetypischer Symbolik.
Der
dritte Samen waren die indigenen Stämme, die Menschen, die sich
entschlossen, an einem gewissen Punkt vom Weg in die Separation
abzuzweigen. Stellen Sie sich vor, dass sich der Rat der Menschheit am
Beginn der Reise versammelte, und sich einige Mitglieder freiwillig
meldeten, um in weit abgelegenen Regionen auszuharren und auf die
Separation zu verzichten. Das bedeutete, dass sie es ablehnten, eine
feindliche, kontrollierende Beziehung zur Natur einzugehen, und dass sie
sich damit auch dem Prozess verweigerten, der zur Entwicklung von
Hochtechnologie führte. Das hieß aber weiters, dass sie sich den
schrecklichsten Leiden aussetzten, wenn sie von Menschen entdeckt werden
würden, die weit in die Separation vorgedrungen waren. Das war
unvermeidlich.
Diese
Menschen vom dritten Samen haben heute ihre Mission fast erfüllt. Ihre
Mission war es, einfach so lange zu überleben, dass sie lebende
Beispiele davon liefern konnten, was es heißt, Mensch zu sein. Jeder
Stamm überbrachte ein anderes Teilstück – manchmal auch viele Teilstücke
– dieses Wissens. Viele von ihnen zeigen uns, wie man das Land, die
Tiere und die Pflanzen sieht und sich ihnen gegenüber verhält. Andere
zeigen uns, wie man mit Träumen und der Welt des Unsichtbaren umgeht. Manche haben Methoden einer natürlichen Kindererziehung bewahrt, die nun durch Bücher wie The Continuum Concepti verbreitet werden.
Manche zeigen uns, wie man ohne Worte kommuniziert – Stämme wie die
Hadza und die Pirahã kommunizieren hauptsächlich in Form von Gesängen.
Manche zeigen uns, wie man sich von der Vorstellung von einer linearen
Zeit befreit. Alle von ihnen geben ein Beispiel für eine Seinsweise, die
wir intuitiv wiedererkennen, und nach der wir uns sehnen. Sie rühren an
eine Erinnerung in unseren Herzen und wecken unser Sehnen dorthin
zurückzukehren.
***
Bei
einem Gespräch erzählte mir der Lakota Aloysius Weasel Bear, dass er
einst seinen Großvater gefragt hatte: “Großpapa, der Weiße Mann zerstört
alles, sollten wir ihn nicht aufhalten?” Sein Großvater antwortete
darauf: “Nein, das ist nicht notwendig. Wir werden uns bereit halten. Er
wird sich selbst überlisten.” Mit dieser Antwort berücksichtigte der
Großvater zwei Dinge: Erstens, dass die Separation den Samen ihres
eigenen Untergangs in sich trägt, und zweitens, dass sein Volk die
Aufgabe hat, es selbst zu bleiben. Aber ich denke nicht, dass das eine
gefühllose Haltung ist, mit der sie den Weißen Mann seiner
wohlverdienten Strafe überlassen; es ist eine mitfühlende und helfende
Haltung, die anerkennt, wie ungeheuer wichtig es ist, einfach die zu
bleiben, die sie sind. Sie halten etwas am Leben, das der Planet und die
Gemeinschaft aller Lebewesen brauchen.