Jiddu Krishnamurti

Jiddu Krishnamurti
Wir werden sehen wie wichtig es ist die radikale Revolution in den Köpfen der Menschen zu verursachen. Die Krise ist eine Krise des Bewusstseins. Ein Krise, die nicht mehr die alten Normen akzeptieren kann, die alten Muster, die uralten Traditionen. Wenn man in Betracht zieht, was die Welt jetzt ist, mit all dem Elend, den Konflikten, der zerstörerischen Brutalität, Aggressionen usw. Der Mensch ist immer noch wie er war. Er ist immer noch brutal, zerstörerisch, aggressiv, habgierig, wetteifernd. Er hat eine Gesellschaft darauf aufgebaut.

Freitag, 25. April 2025

Das Ende der Megamaschine von Fabian Scheidler


Inhaltsverzeichnis

Kapitel 7 Maschine 

Die Abrichtung des Körpers

Ein wesentliches Element für die Abrichtung des Körpers waren massive Strafen für jede Form von regelwidrigem Verhalten. In der preußischen Armee etwa konnte bereits der Widerspruch gegen einen Vorgesetzten mit dem berüchtigten Spießrutenlauf geahndet werden: Der Verurteilte musste mit nacktem Oberkörper eine Gasse, die aus mehreren hundert Soldaten gebildet wurde, langsam durchschreiten. Dabei erhielt er von jedem Soldaten einen Rutenschlag auf den Rücken. Wer nicht kräftig genug zuschlug, lief Gefahr, selbst durch die Gasse zu müssen. Um den Verurteilten am schnellen Gehen zu hindern, schritt ein Offizier voraus, der ihm eine Säbelspitze vor die Brust hielt. Ein mehrmaliges Durchlaufen führte oft zum Tode. Diese Strafform, die in verschiedenen Varianten auch in der französischen, holländischen und englischen Armee routinemäßig praktiziert wurde, ging auf das Vorbild des Fustuariums zurück, einer Form der Todesstrafe, die von den Römern ersonnen worden war. Das offensichtliche Ziel dieser Methode war es, nicht nur den Verurteilten zu strafen, sondern zugleich seine Kameraden zu Komplizen der strafenden Gewalt zu machen. Indem die Soldaten jemanden ihresgleichen misshandelten, unterwarfen sie auch sich selbst.

Die militärische Disziplin begnügte sich indes nicht mit solchen Demütigungs- und Unterwerfungsritualen. Ihr ging es darum, die gesamte Motorik des Soldaten zu durchdringen und nutzbar zu machen, jede einzelne Geste, jeden Blick zu erfassen und in einen präzisen Takt einzugliedern, mit anderen Worten: das Innerste des Körpers mit einer »Mikrophysik der Macht« (Michel Foucault) zu durchdringen.

Der Gleichschaltungsmaschinerie des Militärs wurden in Europa mit dem rasanten Wachsen der Heere immer mehr Männer unterworfen. Nachdem die freiwillige Werbung den Bedarf nicht mehr decken konnte, gingen viele Länder zur Zwangsrekrutierung über: Trupps strömten in die Dörfer aus, rissen mit Gewalt Bauern- und Handwerkersöhne aus ihrem bisherigen Leben heraus und zwangen sie in die Armee. In Preußen spielten sich zur Zeit des Spanischen Erbfolgekrieges (1701–1714) regelrechte Menschenjagden ab. Eine massenhafte Landflucht und scharenweise Desertionen waren die Folge – worauf sich wiederum die Zwangsmaßnahmen des Staates verschärften.

Der militärische Drill, dem immer mehr Menschen in Europa zunächst in der Armee, später auch in der Schule und der Fabrik unterworfen wurden, verbunden mit grotesken Strafen selbst für die kleinsten Abweichungen von der Norm, hatte eine tiefgreifende Veränderung des Selbstgefühls und Körperbewusstseins in der Neuzeit zur Folge. Eigene Impulse und Emotionen mussten radikal unterdrückt werden. Damit der Körper zu einem gefügigen Automaten in der Hand eines anderen wird, muss sich der Befehlsempfänger an der Beherrschung und Unterdrückung seines Körpers selbst aktiv beteiligen, er muss dem Kommandanten, der ihn für eine nicht normgerechte Handhaltung oder einen nicht regelkonformen Gesichtsausdruck zurechtzuweisen droht, zuvorkommen, er muss zu seinem eigenen Kommandanten werden.

Das Normierungs- und Abrichtungssystem des Militärs beruhte jedoch nicht nur auf der Furcht vor Strafen, sondern auch auf der Aussicht auf Belohnung. Um eine schlagfertigere, schnellere, intelligentere Armee zu schaffen als die Konkurrenz, musste die Motivation der Soldaten angefacht werden, ihr Ehrgeiz. Ein System, das nur auf Strafen setzt, neigt dazu, alle Arten von heimlichem Widerstand, Obstruktion, Sabotage, Desertion oder gar die offene Revolte zu fördern. Es ist außerdem teuer, weil es zur Kontrolle der Untergebenen sehr viel Personal braucht. Militärfachleute entdeckten daher bald, ebenso wie ihre Kollegen aus der Pädagogik, dass es weitaus effektiver ist, das eindimensionale Bestrafungssystem in ein zweidimensionales Notensystem zu verwandeln, das Belohnungen für erwünschtes und Sanktionen für unerwünschtes Verhalten vorsieht. Eine solche Bewertungsskala hat den Vorteil, dass die Individuen messbar und miteinander vergleichbar werden, dass Rangordnungen aufgebaut werden. In diesem System sind es nicht nur die dafür angestellten Aufseher, die permanent vergleichen und bewerten; auch die Bewerteten selbst haben ständig ihre Position auf der Punkteskala vor Augen und sind bemüht, auf ihr aufzusteigen oder zumindest einen Abstieg zu vermeiden. Die Bewerteten werden zu ihren eigenen Aufsehern. Das Endstadium dieser Entwicklung ist erreicht, wenn Menschen dieses System so verinnerlicht haben, dass sie glauben, ihrem eigenen Willen zu folgen, wo sie tatsächlich lediglich die Anforderungen des Systems erfüllen.

Schule als Disziplinaranstalt

Die Organisationsform des Militärs wurde im Laufe der Jahrhunderte zum Vorbild für zahlreiche andere Institutionen: das Gefängnis, das Arbeitshaus, die Fabrik, den Sport und nicht zuletzt die Schule. Das moderne Schulsystem schöpfte dabei noch aus einer zweiten Quelle: den Klosterschulen, in denen bereits im Spätmittelalter eine rigide Zeiteinteilung und körperliche Disziplinartechniken entwickelt worden waren. Die Schule führte die christliche Askese mit dem Drill der Armee zusammen.

Wie das Kloster und das Militär, so beruhte auch die Schule zunächst auf einer Einschließung: Bestimmte Gruppen wurden von der Außenwelt abgesondert und in geschlossenen Einrichtungen untergebracht, die sie ohne Erlaubnis einer Autorität nicht verlassen durften. Innerhalb der Schule selbst wird der Raum einer sorgfältigen Parzellierung unterworfen, jeder Schüler erhält seinen Platz, den er wiederum nicht ohne Genehmigung verlassen darf. Wie im Fall der modernen Stadt und des modernen Waldes, so ist auch hier die Durchschaubarkeit des Raumes von entscheidender Bedeutung: Schüler müssen so sitzen, dass der Lehrer alle auf einen Blick erfassen kann; Gänge zwischen den Schulbänken erlauben ihm einen schnellen Zugriff auf jeden einzelnen.

Aber nicht nur der Raum, sondern auch die Zeit und jede einzelne Geste wird rigoros reglementiert. Der französische Philosoph Michel Foucault (1926–1984) beschreibt, wie die Körper der Schüler, analog zu denen der Soldaten, durch ein System von Signalen einer minutiösen Disziplinierung unterworfen werden:

Der erste und hauptsächliche Gebrauch des Signals dient dazu, mit einem Schlag alle Blicke der Schüler auf den Lehrer zu lenken, damit sie auf das aufmerken, was er ihnen bekanntgeben will. So wird er jedes Mal, wenn er die Aufmerksamkeit der Kinder auf sich ziehen will und eine Übung beenden lassen will, einen Schlag geben. Ein guter Schüler wird immer, wenn er das Signal hört, die Stimme des Lehrers oder vielmehr die Stimme Gottes selber zu hören sich einbilden, der ihn bei seinem Namen ruft.32

Das sogenannte Monitorialsystem der britischen Pädagogen Lancaster und Bell im 19. Jahrhundert hat die maschinell organisierte Zeitgliederung auf die Spitze getrieben:

8.45 Eintritt des Monitors, 8.51 Ruf des Monitors, 8.56 Eintritt der Schüler und Gebet, 9.00 Einrücken in die Bänke, 9.04 erste Schiefertafel, 9.08 Ende des Diktats, 9.12 zweite Schiefertafel usw.33

Jedes Wort wurde zu einem Befehl, dem ein prompter Gehorsam zu folgen hatte. Wie beim Militär erstreckte sich dieser Gehorsam bis in die Feinmotorik, die Gleichschaltung der Bewegung musste total sein, keine abweichende Geste durfte geduldet werden:

Geht in eure Bänke! Beim Wort Geht legen die Schüler vernehmlich ihre rechte Hand auf die Bank und setzen ein Bein in die Bank; bei In eure Bänke ziehen sie das andere Bein nach und setzen sich vor ihre Schiefertafeln … Nehmt die Tafeln! Beim Wort Nehmt legen die Kinder die rechte Hand an die Schnur, mit der die Tafel am Nagel aufgehängt ist, und mit der linken fassen sie die Tafel; bei die Tafeln nehmen sie sie ab und legen sie auf den Tisch.34

Das Ziel dieser ganzen Prozedur bestand darin, eine reibungslos funktionierende Lernmaschine zu schaffen, wie sie der »Vater der modernen Pädagogik« Johann Comenius bereits im 17. Jahrhundert erträumte: »Sobald es uns gelingt, die geeignete Methode zu finden, wird es nicht schwieriger sein, Schüler in jeder gewünschten Anzahl zu unterrichten, als mittels der Druckerpresse täglich tausend Blätter mit der saubersten Schrift zu bedecken. Erziehung nach meinem Plan ausgeführt zu sehen, wird so erfreulich sein, wie eine automatische Maschine zu betrachten, und der Prozess wird so fehlerlos sein wie diese mechanischen Vorrichtungen, wenn sie geschickt konstruiert sind.«35 

Auch wenn einige allzu grotesk oder brutal erscheinende Disziplinarmethoden im Laufe der letzten 200 Jahre aus dem Schulwesen verschwunden sind, blieben die Grundpfeiler des Systems doch bis heute dieselben. Ein Schüler hat – zumindest jenseits der Grundschule – im Klassenraum weder das Recht, auf eigene Initiative zu sprechen noch sich zu bewegen, sondern nur auf Geheiß einer Autorität. Er darf von sich aus nicht einmal zum Fenster gehen, um Luft zu schnappen. Er darf mit seinem Tischnachbarn nicht kommunizieren, sondern nur entlang der zentralen Achse zum Lehrer und nur über die von ihm vorgeschriebenen Themen. Selbst Gefangene im Zuchthaus haben mehr Rechte als Schüler im Klassenraum.

Auf den ersten Blick muss die Hartnäckigkeit dieses Systems überraschen. Denn es ist seit langem bekannt, dass die Logik von Befehl und Gehorsam das Lernen eher behindert als fördert. Menschen lernen nachweislich am besten durch Neugier und nicht durch Angst, durch Interesse und nicht durch die fremdbestimmte Vorgabe von Aufgaben, deren Sinn sie nicht verstehen.36 Dass sich trotz dieser Kritik an den Grundpfeilern des Schulsystems – von oben vorgeschriebene Lehrpläne, die unterschiedslos für alle gelten, Zerlegung des Stoffs in Fächer und Stunden, Notengebung usw. – seit dem 19. Jahrhundert wenig geändert hat, erscheint zunächst irrational. Doch wenn man genauer hinschaut, zeigt sich ein einfacher Grund für diese institutionelle Lernverweigerung. In der Schule ging es von Anfang an gar nicht so sehr um das Erlernen von Stoff, sondern um ein anderes, übergeordnetes Lernziel. Die Schule übt einen Modus ein, der für die spätere Funktion im Wirtschaftsgetriebe unabdingbar ist: den Modus der Entfremdung. Sie bereitet Schüler darauf vor, austauschbare Aufgaben zu erledigen und dafür Punkte in einem abstrakten System von Strafen und Belohnungen zu sammeln, anstatt ihren eigenen Interessen zu folgen und Fähigkeiten zu entwickeln, die unmittelbar dazu dienen, menschliche Bedürfnisse zu befriedigen. Die Einübung dieses Entfremdungsmodus ist die Voraussetzung dafür, dass Menschen später bereit sind, ihren Platz in einer entfremdeten Ökonomie einzunehmen.

Nur wenn Menschen verlernen, ihren eigenen Impulsen nachzugehen, wenn Sie es für unabänderlich und selbstverständlich halten, dass Arbeit darin besteht, Aufgaben zu erfüllen, die sich andere ausgedacht haben, wenn sie ihr Leben an den Punkten, die ihnen von anderen zugesprochen oder abgezogen werden, orientieren, können sie in einer globalen Ökonomie, die jeden Arbeitsablauf nach den Kriterien der Effizienz und Nutzenmaximierung zerlegt, funktionieren. Die moderne Ökonomie braucht den entfremdeten Menschen. An die Stelle von Interesse und Sinnerfahrung tritt in ihr der Lohn, ein abstrakter Geldwert, der für die oft als sinnlos oder zermürbend empfundene Arbeit entschädigen soll – genau wie in der Schule die Note an die Stelle der erfüllenden Lernerfahrung tritt.

Die Erfindung der Arbeit

Wir neigen dazu, »Arbeit« als etwas zu betrachten, das so alt ist wie die Menschheit. Mussten Menschen nicht immer »arbeiten«, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen? Zweifellos mussten Menschen etwas tun, um ihr Leben zu erhalten; aber über den größten Teil der Menschheitsgeschichte verstanden sie das nicht als »Arbeit«. Das lateinische Wort »laborare« (»arbeiten«) heißt ursprünglich so viel wie »unter einer Last schwanken«. Arbeit war in der Antike ausschließlich Sklavenarbeit: von einer fremden Macht auferlegte Plackerei. Wo freie Menschen etwas taten, galt das nicht als Arbeit.

In Gemeinschaften, die weder der Sklaverei noch dem Markt unterworfen sind, ist das Leben geprägt von Tätigkeiten: dem Reparieren eines Dachstuhls, dem Waschen der Wäsche, der Ernte, dem Stillen der Kinder, der Herstellung von Werkzeugen, dem Weben, der Vorbereitung eines Festtages und so weiter. Aus unserer heutigen Sicht würden wir einige dieser Tätigkeiten als »Arbeit« bezeichnen, andere als »Hausarbeit« oder »Sorgearbeit« und wieder andere als »Freizeitbeschäftigungen«. Aber diese Trennung ist eine Erfindung der Moderne. Aus der Sicht einer selbstversorgenden, selbstbestimmten Gemeinschaft ergeben diese Kategorien überhaupt keinen Sinn. Denn all diese Tätigkeiten dienen gleichermaßen dazu, das zum Leben Notwendige bereitzustellen.

Mit der gewaltsamen Eingliederung solcher Gemeinschaften in die Große Maschine veränderte sich die Situation radikal. Es ging nun darum, die Energie und Fertigkeiten der Menschen Zwecken zu unterwerfen, die außerhalb ihrer eigenen Motivation und des gemeinschaftlichen Lebens standen. Das Ergebnis dieser Unterwerfung ist das, was wir »Arbeit« nennen. Sie nahm dabei historisch zwei Formen an: In der Peripherie des Weltsystems wurden Sklaverei und Zwangsarbeit für Jahrhunderte zur vorherrschenden Arbeitsform; in den Zentren setzte sich die Lohnarbeit durch. Beide Formen der Arbeit zielen darauf ab, den Arbeitenden zu einem verfügbaren Teil der Großen Maschine zu machen; beide sind mit massiver Gewalt verbunden, jedoch in sehr unterschiedlicher Ausprägung. Während bei der Sklaverei und Zwangsarbeit die nackte physische Gewalt dominiert, entwickelte sich die Lohnarbeit über die Jahrhunderte zu einem System von immer raffinierteren Disziplinierungen, die letztlich auf eine Mitwirkung der Arbeitenden an ihrer eigenen Unterwerfung hinauslief.

Sklaverei

Vom 16. bis ins 19. Jahrhundert verschleppten europäische Sklavenhändler etwa zwölf Millionen Menschen aus Afrika und verschifften sie in die Karibik, nach Brasilien und in die heutigen USA, um sie dort an Zucker-, Tabak-, Kaffee- und Baumwollproduzenten zu verkaufen. Ein großer Teil der Menschen starb bereits auf den »Todesmärschen« aus dem Inneren Afrikas zu den Küsten, nach manchen Schätzungen bis zu fünfzig Prozent der Gefangenen. Von denen, die die Küste erreichten, starben weitere zwanzig Prozent auf der Überfahrt. In vielen Schiffen waren die Sklavendecks so niedrig gebaut, dass die im Liegen angeketteten Männer, Frauen und Kinder sich nicht einmal umdrehen konnten. Die Menschen lagen tagelang in ihren eigenen Exkrementen. Viele wurden auf der Überfahrt verrückt.37

Für den Handel mit dem »schwarzen Elfenbein« – wie englische Kaufleute die Afrikaner nannten – wurde eine Reihe von Aktiengesellschaften nach dem Vorbild der Niederländischen Ostindien-Kompanie gegründet, darunter die Royal African Company, die South Sea Company, die Französische Westindienkompanie und die Senegalkompanie. Zu den Aktionären gehörten so honorige Persönlichkeiten wie John Locke (der »Vater des Liberalismus«), Isaac Newton, Daniel Defoe (Autor von Robinson Crusoe) und Jonathan Swift (Autor von Gullivers Reisen).38

In den europäischen Rechtsordnungen waren Sklaven, ähnlich wie im römischen Recht, keine Lebewesen, sondern Objekte. Der »Code Noir« aus dem Jahre 1685, den der französische Historiker Louis Sala-Molins als den »monströsesten juristischen Text der Moderne« bezeichnet hat39, definierte Sklaven als bewegliche Güter (»meubles«), die der totalen Macht ihres Besitzers ausgeliefert sind.40 Selbst kleine Diebstähle sollten laut diesem Gesetz mit Brandmarkungen und Peitschenhieben, schwerere Fälle mit dem Tod bestraft werden; Flucht wurde mit dem Abschneiden der Ohren, dem Durchtrennen der Kniekehlen und nach drei Fluchtversuchen ebenfalls mit dem Tod geahndet.41 Der Code Noir galt für die französischen Überseegebiete bis zum Jahr 1848.

Die Sklaverei war der denkbar radikalste Versuch, einen objektivierten Menschen zu produzieren und seine kulturellen und sozialen Bindungen zu zerschlagen. Die Versklavten wurden aus ihrem gemeinschaftlichen Leben herausgerissen und auf einen anderen Kontinent deportiert. Die Sklavenhändler waren außerdem darauf bedacht, Gefangene, die dieselbe Sprache sprachen, strikt voneinander zu trennen. Nur die reine Physis des Menschen, vereinzelt und befreit von allen sozialen und kulturellen Bindungen, sollte über den Atlantik transportiert werden. Trotzdem gelang es vielen Sklaven, ob in Brasilien, der Karibik oder den USA, heimlich viele ihrer kulturellen Traditionen fortzuführen und weiterzuentwickeln. Die brasilianische Candomblé-Religion etwa wurde über Jahrhunderte trotz Verboten praktiziert und spielte eine wichtige Rolle beim Widerstand gegen die weißen Herren.

Die Sklaverei trug erheblich zur Expansion der Geldwirtschaft bei; Städte wie Liverpool, Bristol, Bordeaux oder Glasgow stiegen durch den Dreieckshandel mit Sklaven, Baumwolle, Tabak und Zucker zu reichen Metropolen auf. Die Zuckerplantagen der Karibik lieferten außerdem billige Kalorien für die europäischen Arbeiter, die dank dieser Importe mit minimalen Löhnen abgespeist werden konnten: Zucker wurde neben der Kohle zum zweiten entscheidenden Kraftstoff für die Fabriken Manchesters.42

Lohnarbeit

Die Entstehung der Lohnarbeit in Europa war eng mit dem Krieg verknüpft. Wie bereits in der Antike, so waren auch in der Frühen Neuzeit Söldner die ersten Lohnarbeiter. Der Söldner verkörpert die Logik der Lohnarbeit in ihrer reinsten und radikalsten Form. Er tut alles für Geld, er tötet und lässt sich töten, und zwar ohne ein anderes Motiv als das Geld selbst. Er ist, im Idealfall, ohne jede Loyalität und Bindung zu einer Gemeinschaft außerhalb des Heeres, die ihn bei seiner Arbeit nur behindern könnte, er ist maximal entfremdet und verfügbar. Wenn der Krieg zuende ist und der Geldfluss versiegt, fällt der Söldner in eine absolute Leere. Entlassene Söldner bildeten die ersten Arbeitslosenheere der Geschichte.

Obwohl die Lohnarbeit formell »frei« war, weil sie auf einem kündbaren Vertrag zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer beruhte, wurde sie von großen Teilen der Bevölkerung als eine Form der Sklaverei gesehen. Tatsächlich kann von Freiwilligkeit nur sehr bedingt die Rede sein; denn die Menschen, die durch wachsende Steuerlasten, Einhegungen und Vertreibungen die bisherige Subsistenz- und Allmendewirtschaft aufgeben mussten, waren gezwungen, Lohnarbeit auch zu den widrigsten Bedingungen anzunehmen. Für die Ärmsten der Armen war Lohnarbeit sogar unmittelbar als Zwangsarbeit organisiert. In England, Frankreich, den Niederlanden und Deutschland wurden seit dem frühen 17. Jahrhundert Arbeitshäuser gegründet, um Bettler, Vagabunden, arbeitslose Handwerker und Waisenkinder zu internieren. Das Leben in diesen Häusern war einem ununterbrochenen disziplinarischen Terror unterworfen. Das Ziel war vor allem die Abschreckung: Der Alltag im Arbeitshaus sollte so unerträglich sein, dass die Armen lieber zu Hungerlöhnen ihre Arbeitskraft verkauften, als eine Internierung zu riskieren.

Doch trotz dieser verschiedenen Formen von struktureller und physischer Gewalt war die Durchsetzung der Lohnarbeit und der damit einhergehenden Arbeitsdisziplin mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden. Über die Jahrhunderte reißen die Klagen der Arbeitgeber über faule und unzuverlässige Arbeiter nicht ab. In der frühen Phase der »Protoindustrialisierung«, als Bauern sich zuhause ein Zubrot durch Auftragsarbeiten für große Händler (»Verleger«) verdienten, konnte von Disziplin noch überhaupt keine Rede sein. Die Bauern arbeiteten nur, wenn sie unmittelbar Geld brauchten; im Übrigen zogen sie es vor, ihrem selbstbestimmten Leben nachzugehen.43

Der Grund für diesen Widerstand war nicht nur die meist erbärmliche Bezahlung, sondern der Zwangscharakter der Lohnarbeit. Solange Bauern und Handwerker vor allem für den eigenen Bedarf und lokale Märkte produzierten, war das Ziel ihres Wirtschaftens die Befriedigung von Grundbedürfnissen. Dieses Ziel ließ oft erhebliche Freiräume für die Gestaltung des Tagesablaufs; wie und wann bestimmte Dinge getan wurden und mit welchen Techniken, war sowohl von individuellen Vorlieben als auch von kulturellen Gebräuchen und Rhythmen bestimmt. Alle Tätigkeiten waren in ein gemeinschaftliches Leben eingebettet, das von anderen als rein ökonomischen Kriterien bestimmt wurde.

Aus der Sicht eines Investors waren all diese Gebräuche und Rhythmen Investitionshemmnisse. Der arbeitende Mensch ist für ihn ein Werkzeug, dessen »subjektive« und kulturell geprägte Vorlieben – wie im Fall der Sklaverei – keine Rolle spielen dürfen; was allein zählt sind die objektiven Anforderungen des Marktes. Die Heimarbeit genügte daher auf Dauer nicht. Sie war zwar für viele Verleger ausgesprochen profitabel, erlaubte aber nur begrenze Produktionssteigerungen. Die Arbeitsabläufe waren zu unkontrollierbar und ineffizient, noch zu sehr eingebettet in die eigensinnigen Strukturen der Gemeinschaften.

Der nächste Schritt bestand daher darin, die Arbeit vom Haus zu trennen und in Manufakturen zu verlagern, wo der Auftraggeber die Anwesenheit, den Fleiß und die Geschicklichkeit der Arbeitenden kontrollieren konnte, selbst wenn sie formal noch selbstständig waren. Anfangs waren diese Betriebe lediglich eine Ansammlung von Werkstätten unter einem Dach, und jeder Handwerker führte noch den gesamten Arbeitsablauf aus. Doch um die Produktivität zu steigern, wurden die Abläufe nach und nach in einzelne Arbeitsschritte zerlegt und auf verschiedene Arbeiter verteilt.44 Auf diese Weise wurde die Tätigkeit nicht nur aus dem Sinngefüge der Gemeinschaft herausgerissen, sondern auch aus den Händen des einzelnen Arbeiters, der damit zu einem austauschbaren Teil einer großen Logistik degradiert wurde. Das 19. und 20. Jahrhundert hat diesen Vorgang mit dem »Scientific Management« eines Frederick Taylor auf die Spitze getrieben, der die Handgriffe von Fabrikarbeitern haarklein zerlegte und jede vergeudete Millisekunde auszumerzen versuchte. 


Durch die immer akribischere Kontrolle über Raum, Zeit und Bewegung wurde die Lohnarbeit zu einem ähnlich herrischen Disziplinarinstrument wie die Armee und die Schule. Die Menschen wurden einer »Tyrannei der abstrakten Zeit« (so der deutsche Publizist Robert Kurz) unterworfen, einer Diktatur der Effizienz: Nicht mehr die Rhythmen der Gemeinschaft, die Zyklen der Natur oder die Eigenzeit des tätigen Menschen prägten das Leben, sondern der einförmige Takt der Wecker, Stechuhren und Signalglocken.45 Das komplexe Sinngefüge von Beziehungen, auf denen gemeinschaftliches Leben beruht, wurde durch maschinelle Ketten aus Befehl und Gehorsam ersetzt. Der Fluchtpunkt dieser Entwicklung ist eine Gesellschaft, deren einziges Ziel die unendliche Steigerung der Güterproduktion ist und die dabei alles auslöscht, was diesem Zweck nicht dient.

Lange vor der Industriellen Revolution träumten Militärs, Pädagogen, Fabrikanten und Wissenschaftler von einer solchen durch und durch maschinell organisierten Gesellschaft. Doch eines fehlte ihnen noch, um diesen Traum Wirklichkeit werden zu lassen: der Treibstoff.



Kapitel 8 Moloch
Der Totale Markt


Doch die Menschen stellten sich dieser Maschinerie keineswegs freiwillig zur Verfügung, um an jedem beliebigen Ort zu jedem beliebigen Zweck eingesetzt zu werden; ein Markt für Arbeit musste erst geschaffen werden, und zwar, wie wir sehen werden, mit Gewalt.

Was heute so selbstverständlich erscheint, war zu Beginn der Industrialisierung noch etwas Ungeheuerliches; denn dass es einen Markt für menschliche Arbeit geben sollte, bedeutete nichts anderes, als dass der Mensch selbst zur Ware werden musste.

Und als Ware, die frei am Markt gehandelt werden sollte, musste der Mensch total verfügbar sein, er durfte keinerlei Bindungen an Orte, Menschen oder Kulturen unterhalten, die seine Verfügbarkeit einschränkten.

Um die industrielle Produktion in Gang zu setzen und zu halten, mussten Menschen daher dieser Wahlmöglichkeit beraubt werden, sie mussten auf die eine oder andere Weise gezwungen werden, dem Markt zu Verfügung zu stehen. Dafür gab und gibt es zwei Methoden: die direkte physische Gewalt, wie sie etwa in der Sklaverei und Zwangsarbeit herrschte; und die strukturelle Gewalt des »freien Arbeitsmarktes«.

Ein Arbeitsmarkt ist nicht, wie immer wieder angenommen wird, eine »natürliche« Institution. Arbeitsmärkte bilden sich nicht von selbst, sie werden gemacht.

Der britische Arzt Joseph Townsend formulierte das in seinem einflussreichen Aufsatz über die Armengesetze in aller Deutlichkeit:

Der Hunger bezähmt die wildesten Tiere, er lehrt sogar die Widerspenstigsten Anständigkeit und Höflichkeit, Gehorsam und Unterordnung. Im allgemeinen wird sie (die Armen) nur der Hunger zur Arbeit anspornen und leiten, und doch haben unsere Gesetze vorgeschrieben, daß sie niemals hungern sollen. Die Gesetze haben zugegebenermaßen auch vorgeschrieben, daß sie zur Arbeit veranlaßt werden sollen. Aber gesetzlicher Zwang ist mit so viel Ärger, Gewalttätigkeit und Lärm verbunden, er schafft böses Blut und kann niemals gute und brauchbare Dienste hervorrufen. Der Hunger hingegen übt nicht nur einen friedlichen, stillen und unablässigen Druck aus, sondern ist auch der natürlichste Grund für Fleiß und Mühe.10

Der »freie Markt«, hinter dem die Drohung des Hungers und des Todes steht, sollte anstelle des staatlichen Zuchtmeisters die Disziplinierung der Arbeiter übernehmen.

Entwurzelung, soziale Traumatisierung und Widerstand

Das physische Elend, das durch die Entfesselung des totalen Marktes erzeugt wurde, war aber nur ein Teil der Katastrophe. Mindestens ebenso schwerwiegend wirkte die radikale Entwurzelung und soziale Desorganisation, die mit der Erschaffung »freier Arbeitsmärkte« verbunden war.

Die Lowell Mill Girls etwa, Arbeiterinnen in US-amerikanischen Textilfabriken, die den Begriff »Lohnsklaverei« populär machten, erklärten in den 1830er-Jahren:

Wenn Du ein Produkt verkaufst, behältst Du trotzdem Deine Person. Aber wenn Du Deine Arbeitskraft verkaufst, verkaufst Du Dich selbst. Du verlierst die Rechte als freier Mensch und wirst zu einem Vasallen eines gigantischen Apparats der Geldaristokratie, die jeden mit Auslöschung bedroht, der ihr Recht zur Versklavung und Unterdrückung in Frage stellt. Diejenigen, die in den Fabriken arbeiten, müssen diese auch besitzen, anstatt auf den Status von Maschinen reduziert zu werden, regiert von privaten Despoten.14

Auch in Europa erhob sich gegen die Degradierung und Entmündigung der Arbeiter massiver Widerstand. 

Die Reaktion des »liberalen« Staates war brachial: Ein massives Armeeaufgebot zog gegen die Ludditen aus, die Regierung erklärte Maschinenstürmerei (»Sabotage«) zum Kapitalverbrechen und Dutzende von Ludditen wurden in Schauprozessen zum Tode verurteilt. Einmal mehr musste der »freie Markt« mit massiver physischer Gewalt durchgesetzt werden.

Die Erfindung der Nation

Die große Entwurzelung, die mit der Industrialisierung verbunden war, und das kulturelle Vakuum, das daraus entstand, führte nicht nur zur Entstehung von Arbeiterbewegungen und Arbeiterkulturen, sondern auch zu einer anderen Bewegung, die sich letztlich als verhängnisvoll erweisen sollte: zum Nationalismus. Die Nation ist, wie es der Historiker Benedict Anderson formulierte, eine »eingebildete Gemeinschaft«.16 Kein Franzose kann die 65 Millionen anderen Franzosen jemals kennen, kein Deutscher die 80 Millionen weiteren Deutschen und kein Inder alle 1,2 Milliarden Inder. Und doch glauben bis heute viele, dass sie Teil einer großen Gemeinschaft der Franzosen, Deutschen oder Inder seien, dass sie so etwas wie eine Schicksalsgemeinschaft bilden – und das selbst dann, wenn sie tagtäglich von ihren Landsleuten übers Ohr gehauen werden. Das Abstraktum der Nation ist für viele Menschen zum Ersatz einer echten, gewachsenen Gemeinschaft, einer echten Teilhabe und echter Solidarität geworden; und sie ist in hohem Maße instrumentalisiert worden, um von sozialen Konflikten abzulenken und Menschen für die Zwecke der Großen Maschine zu mobilisieren – bis hin zum Krieg.


Denn die Idee der Nation als Volksgemeinschaft lenkt von den Auseinandersetzungen um Gerechtigkeit und echte Teilhabe ab, die quer durch alle Gesellschaften verlaufen. Sie konstruiert einen Volkskörper, in dem Fabrikanten und Arbeiter, Kriegsminister und Soldaten für einen höheren gemeinsamen Zweck zusammenwirken. Sie suggeriert den Vereinzelten, dass sie Teil eines großen gemeinsamen Projektes seien: der Errichtung einer glorreichen Nation, einer Art Überfamilie. Sie verspricht, dass auf das einzelne trostlose Leben etwas vom Glanz der nationalen Größe fällt. Der Nationalismus war ein entscheidender Hebel, um erhebliche Teile der systemkritischen Kräfte – auch aus der Arbeiterschaft – in eine systemstabilisierende und letztlich selbstmörderische Täuschung hineinzumanövrieren.

Dabei galt es, die Idee der Nation Schritt für Schritt ihrer sozialrevolutionären Inhalte zu entkleiden, die Klassengegensätze in den Hintergrund zu drängen und die Gemeinsamkeiten des jeweiligen »Volkes« in den Vordergrund zu rücken. Die sich rasant ausbreitenden Massenmedien leisteten dazu einen wichtigen Dienst; vor allem aber wurden Schule, Militär und Universität zu Indoktrinationsanstalten für die nationale Idee. Wie weit das gehen konnte, zeigt beispielsweise die Erklärung der Hochschullehrer des Deutschen Reiches von 1914, in der fast die gesamte deutsche Professorenschaft verkündete, dass »in dem deutschen Heere kein anderer Geist ist als in dem deutschen Volke, denn beide sind eins, und wir gehören auch dazu.«22 Mit Fahnen und Hymnen wurden gezielt Symbole der Identifikation geschaffen, um die ein quasi-religiöser Kult inszeniert wurde. Die Geschichtsschreibung konstruierte Jahrtausende umspannende Nationalgeschichten, in denen aus alten Germanen »Deutsche« und aus Galliern »Franzosen« wurden; sie schuf dabei nationale Mythen und »erfundene Traditionen« (Eric Hobsbawm), die das künstliche Gebilde des Nationalstaates als etwas Naturwüchsiges legitimieren sollten. Und ein wissenschaftlich verbrämter Rassismus kleidete das Phantom einer ethnisch homogenen, »reinen« Volksgemeinschaft in das Gewand biologischer Forschung.

Die Gleichung, die hier etabliert werden sollte, lautete ungefähr so: Volk = Nation = Staat. Dass dieses Manöver, zumindest teilweise, gelingen konnte, ist bei näherer Betrachtung ein erstaunliches Kunststück. Denn durch die Frühe Neuzeit hindurch und bis weit ins 19. Jahrhundert war der Staat für den größten Teil der europäischen Bevölkerungen (von den Kolonien ganz zu schweigen) eine durch und durch feindliche Institution: Er trieb mit Gewalt Steuern ein, er verschlang die Männer für den Militärapparat, er setzte Schuldeintreibungen durch, er unterwarf die Armen einer drakonischen Rechtsprechung.23 Wie war es aber dann möglich, dass sich am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts große Menschenmassen so für den Staat begeisterten, dass sie für Nation und Vaterland in den Krieg zogen, um zu töten und getötet zu werden?

Dass sich eine bestimmte Schicht von Staatsbediensteten und anderen Nutznießern des neuen Systems die nationalen Mythen bereitwillig zu eigen machte, ist wenig verwunderlich. Bei der Arbeiterschaft dagegen verfing die Propaganda nicht so leicht; denn solange Arbeiter den Staat in der Praxis vor allem als verlängerten Arm von Arbeitgeberinteressen erlebten, war von ihnen keine Identifikation mit seinen Zielen zu erwarten. Diese Situation änderte sich erst, als Regierungen Schritt für Schritt einzelne Forderungen der Arbeiterschaft erfüllten: Verkürzung von Arbeitszeiten, Ausweitung des Wahlrechts, Arbeitsschutzmaßnahmen, Sozialversicherungen.

Mit diesen Schritten wiederum entstand eine partielle Interessenverschmelzung von Nationalstaat und Arbeiterschaft; der Staat schützte »seine« Arbeiter mit protektionistischen Maßnahmen gegen andere Arbeiterschaften, und so konnte die nationale Ideologie einen gewissen Nährboden auch in Teilen der Arbeiterschaft finden. Es war die Doppelbewegung des totalen Marktes, die in die nationale Falle führte und schließlich den großen Krieg und den Faschismus als Massenbewegung möglich machte: Die radikale Entwurzelung der Arbeiter schuf ein soziales und kulturelles Vakuum, das emanzipatorische Arbeiterorganisationen nur zum Teil füllen konnten; die Pseudogemeinschaft der Nation bot sich den entwurzelten Menschen als Retterin an, materiell in Form eines rudimentären Wohlfahrtsstaates, ideell als imaginierter »Volkskörper«.


Der Weg in den totalen Krieg

Um das Jahr 1900 war praktisch der gesamte Globus in die Weltwirtschaft einbezogen – das erste wahrhaft globale System in der Menschheitsgeschichte. Die sich zuspitzende Konkurrenz der Kolonialmächte um Märkte, Rohstoffe und Einflusssphären war eine der Ursachen, die schließlich in den Ersten Weltkrieg führen sollten. Solange Großbritannien wirtschaftlich und militärisch allen übrigen Ländern um Größenordnungen überlegen war, konnte niemand ernsthaft eine direkte militärische Herausforderung des Empire in Erwägung ziehen. Doch um 1900 war Deutschland mit seiner gewaltigen Montanindustrie ökonomisch gleichauf gezogen und drängte darauf, England als Hegemonialmacht abzulösen.

Dass 1914 der Große Krieg ausbrach, ist daher nicht das eigentlich Überraschende; denn Kriege waren und sind ein routinemäßiges Mittel im modernen Weltsystem, um Interessen durchzusetzen. Sie galten und gelten deswegen als rational führbar, weil diejenigen, die Interessen durchsetzen wollen, dabei in der Regel relativ wenig riskieren. Regenten, Rüstungsproduzenten und Finanziers betreten in der Regel keine Schlachtfelder, auch Generäle meist nicht. Bezahlt werden Kriege stets mit den Leben einfacher Soldaten und ziviler Opfer; und auch die finanziellen Schäden werden meist auf die Breite der Bevölkerung verteilt. Aus diesem Grund ist Krieg strukturell ein Phänomen des »moral hazard«: Diejenigen, die darüber entscheiden, riskieren selbst so gut wie nichts; und diejenigen, deren Leben riskiert wird, haben nichts zu entscheiden.42

Neu am Großen Krieg war daher nicht, dass Regierungen sich dazu entschlossen, ihn zu führen, und dass sie ihn mit äußerster Skrupellosigkeit führten. Neu war die Technologie, die ihn zum ersten industriell geführten Vernichtungskrieg machte: Millionen Soldaten liefen in eine Wand aus Maxim-Maschinengewehrsalven und wurden Reihe um Reihe niedergemäht, während anderswo die Große Maschine brummte, um neue Munition zu produzieren und mit der Eisenbahn weitere Menschen in den sicheren Tod zu transportieren. Der metallurgische Komplex, von fossiler Energie in eine neue Dimension katapultiert und durch die Konkurrenz der Staaten in einen grotesken Rüstungswettlauf getrieben, stellte dafür Waffen vollkommen neuen Typs bereit, die in ihrer Präzision und Vernichtungskraft ohne Beispiel in der menschlichen Geschichte waren: neben dem Maschinengewehr den Panzer, die Granate, die Fliegerbombe, das gepanzerte Kriegsschiff, das U-Boot und den Torpedo.

Einen wesentlichen Beitrag zur Industrialisierung des Tötens lieferte auch die chemische Industrie, die von Anfang an eng mit dem metallurgischen Komplex verbunden war43: Die Erfindung der synthetischen Herstellung von Salpeter durch Fritz Haber und Carl Bosch ermöglichte nicht nur die Produktion von Kunstdünger, sondern auch die Herstellung von Sprengstoff und Schießpulver in bis dahin unvorstellbaren Mengen. Ohne diese Erfindung wäre der Krieg bereits 1915 zu Ende gewesen. Fritz Haber – der später den Nobelpreis für Chemie erhielt – war es auch, der während des Krieges verschiedene Formen von Giftgas für die deutsche Armee entwickelte.

Neu an diesem Krieg war außerdem das Ausmaß der Mobilisierung. Insgesamt 50 Millionen Soldaten wurden im Verlauf des Krieges eingezogen, allein auf deutscher Seite 13 Millionen Menschen. Wenn man sich erinnert, dass Landesfürsten im Hochmittelalter selbst für die größten Militärexpeditionen nur mit Mühe einige Tausend Mann zusammenbekamen, wird deutlich, zu welch einer ungeheuren Maschinerie die Gesellschaft im Laufe der Neuzeit geworden war, einer Maschinerie, die es erlaubte, die halbe Welt über Nacht in ein Schlachtfeld zu verwandeln, wenn es eine Handvoll Regenten befahl.

Wie aber war es möglich, dass all diese Menschen gehorchten? Wie war es möglich, dass sie loszogen, um in Ländern, die ihnen vollkommen unbekannt waren, Menschen, die ihnen nichts getan hatten, zu erschießen, während sie dabei nichts gewinnen konnten als den eigenen elenden Tod, und das alles nur, weil irgendwo im fernen Berlin, Wien oder Petersburg eine Reihe von »Operettenfiguren«, um mit Karl Kraus zu sprechen, dies beschlossen hatten? Welche unsichtbaren Fäden und Räderwerke zwangen sie dazu, sich wie Maschinenteile zu verhalten?

Das 200-jährige Wirken der Disziplinaranstalten und die nationalistische Indoktrinierung geben sicherlich einen Teil der Antwort auf diese Frage, und doch bleibt etwas Unbegreifliches. Mit dem Ersten Weltkrieg trat das moderne Weltsystem in seine surreale, gespenstische Phase ein. Nicht zufällig beschrieb Franz Kafka in dieser Zeit eine Welt unsichtbarer Zwänge, die den Menschen seiner Freiheit berauben, entstanden in der Kunst Dadaismus und Surrealismus. Karl Kraus sprach von den »unwirklichen, undenkbaren, keinem wachen Sinn erreichbaren, keiner Erinnerung zugänglichen und nur in blutigem Traum verwahrten Jahren.«44 Zehn Millionen Menschen starben im Ersten Weltkrieg, zwanzig Millionen wurden verletzt, unzählige schwer traumatisiert – ein Heer von körperlich und seelisch zerstörten Menschen.


9. Kapitel: Masken

Die Steuerung der Großen Maschine und der Kampf um Demokratie (1787–1945)

Diejenigen, denen das Land gehört, sollten es auch regieren.1
John Jay, erster oberster Bundesrichter der USA
Europäische Demokratien sind nur teilweise und auf theoretischer Ebene offene Systeme. Ihre Steuerung beruht auf einem subtilen Filterprozess von Teilnehmenden und Forderungen.
Michel Crozier: Die Krise der Demokratie (Bericht an die Trilaterale Kommission)

In der gängigen Erzählung von Europa als Wiege von Freiheit, Demokratie und Wohlstand wird die Expansion der kapitalistischen Produktionsweise im 18. und 19. Jahrhundert als Voraussetzung für die schrittweise Durchsetzung demokratischer Rechte betrachtet. Marktwirtschaft und Demokratie sind in dieser Erzählung ein untrennbares Zwillingspaar. Auch wenn es nach der Französischen Revolution einige Rückschläge und Verzögerungen gab, so war doch der Weg zur Demokratie vorgezeichnet, den das aufgeklärte Bürgertum unerschrocken beschritt, inspiriert von den Idealen der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung. Und weil der Westen die Demokratie erfunden hat, ist er gemäß dieser Erzählung auch zu einer weltgeschichtlichen Mission berufen, er darf nicht nur, nein, er muss diese seine Errungenschaften mit Nachdruck verbreiten, zur Not auch mit Gewalt.

Es ist bemerkenswert, wie populär diese Erzählung ist, obwohl praktisch jede einzelne Behauptung darin falsch ist. Die Demokratie ist keine Schöpfung Europas oder Nordamerikas, weder die alten Griechen noch die Franzosen oder die »Gründerväter« der USA haben sie erfunden. Wie wir im ersten Kapitel gesehen haben, existierte über die längste Zeit der menschlichen Geschichte, bis vor etwa 5000 Jahren, das Prinzip der Herrschaft von Menschen über Menschen überhaupt nicht; dass eine Minderheit einer Mehrheit auf Dauer ihren Willen aufzwang, war praktisch nicht möglich. Die Gebräuche und Institutionen, die Gemeinschaften damals schufen, um menschliche Beziehungen zu regeln und Interessen zu verhandeln, kann man zwar nicht als »Demokratie« im engeren Wortsinn bezeichnen, weil es weder ein Staatsvolk (demos) gab, noch Herrschaft (kratía). Doch in einem weiteren Sinne sind die gesellschaftlichen Organisationsformen, die vor den ersten hierarchisch aufgebauten Zivilisationen überall auf der Erde existierten und zum Teil bis heute in einigen indigenen Kulturen fortbestehen, weitaus demokratischer als alles, was das antike Griechenland, das moderne Europa oder Nordamerika hervorgebracht haben. Denn in den meist kleinen Einheiten, in denen es zwar Autorität, aber keine Macht gab, waren kollektive Entscheidungsfindungsprozesse, die den größten Teil der betroffenen Menschen einschlossen, an der Tagesordnung. Ein typisches Beispiel dafür sind die südwestafrikanischen Herero, über die ein deutscher Kolonialbeamter 1895 entsetzt notierte: »Nicht allein die Männer, sondern häufig genug auch die Weiber, selbst die Diener geben ihren Rat mit ab. So fühlt sich eigentlich keiner so recht als Untertan, keiner hat so recht gelernt, sich zu fügen.«2 Auf dem Höhepunkt der attischen Demokratie dagegen war nur eine Minderheit überhaupt wahlberechtigt: Demokratie bedeutete die Herrschaft der besitzenden männlichen Vollbürger über die Mehrheit von Sklaven, Frauen und Nicht-Bürgern. Das gleiche galt für die erste moderne Demokratie in den USA ebenso wie für alle europäischen Repräsentativsysteme im 19. Jahrhundert.

Darüber hinaus existieren in den repräsentativen Demokratien europäischer Prägung bis heute große gesellschaftliche Bereiche, die weitgehend demokratiefrei organisiert sind. Dazu gehören die meisten Unternehmen, die, wie bereits die Lowell Mill Girls bemerkten, im Grunde nach dem Muster absolutistischer Tyranneien aufgebaut sind. Auch die Schule, das Militär und andere Disziplinaranstalten sind weitgehend demokratiefrei. Tatsächlich verbringt der größte Teil der Menschen in modernen repräsentativen Demokratien einen erheblichen Teil seiner Zeit in Institutionen, die vollkommen undemokratisch sind.3

Noch viel weniger als die Erfindung der Demokratie kann Europa ihre weltweite Verbreitung als Verdienst geltend machen. Wo immer die europäische Trinität aus Militär, Händlern und Missionaren ihren Fuß hinsetzte, zerstörte sie über kurz oder lang egalitäre gesellschaftliche Organisationsformen. Unter europäischer Kolonialherrschaft wurden die Menschen Afrikas, Amerikas und großer Teile Asiens einer radikalen Fremdbestimmung und Tyrannei unterworfen, die sich zum Teil bis in die 1970er-Jahre erstreckte und unter deren Folgen viele Länder bis heute leiden.

Die dritte irreführende Behauptung in der großen Erzählung vom Triumphzug der westlichen Demokratie ist die Kopplung von Demokratie und Marktwirtschaft. Die demokratischen Errungenschaften, die in Europa tatsächlich erkämpft werden konnten, waren nicht der Eigendynamik seines wirtschaftlichen Systems zu verdanken, sondern vielmehr dem Widerstand gegen dieses System.

Das moderne Weltsystem hatte sich mithilfe massiver Gewalt gegen egalitäre Bewegungen formiert; seine militärischen und ökonomischen Institutionen, die in ihrer Grundstruktur bis heute existieren, wurden geschaffen, um Macht in den Händen weniger zu konzentrieren. Der Absolutismus war eine notwendige Phase in der Formation der neuen Machtstrukturen: Nur eine Konzentration von physischer Gewalt in den Händen einer Zentralregierung war in der Lage, Steuern für den Aufbau von großen Armeen einzuziehen und den Widerstand gegen das neue System unter Kontrolle zu halten; nur ein mächtiger Zentralstaat konnte Institutionen, gesetzliche Rahmenbedingungen und Infrastrukturen erschaffen, die unabdingbar für die Ausweitung des modernen ökonomischen Systems waren.

Doch die absolutistische Organisationsform rief unweigerlich Störungen und Widerstände von verschiedenen Seiten hervor, die im äußersten Fall das Funktionieren des Systems gefährden konnten. Immer mehr Menschen wurden in die ökonomische und staatliche Maschinerie integriert, sowohl als Arbeiter als auch als höhere Funktionsträger, erhielten aber im politischen Apparat so gut wie kein Mitspracherecht. Für die große Mehrheit der Bevölkerung bedeutete die Integration in das neue System eine radikale Entrechtung: Ärmere Bauern und Arbeiter waren einer zentralen Gewalt ausgeliefert, die ihnen Steuern abzwang, sie für die Armee vereinnahmte, sie durch physische oder strukturelle Gewalt zwang, in Manufakturen oder Fabriken zu arbeiten, und Ungehorsam durch drastische Sanktionen ahndete. Damit einher ging eine zunehmende Verelendung, die sich im Rückgang der Reallöhne, der wachsenden Steuerlast und dem Verlust von Gemeingütern zeigte. Andere Teile der Bevölkerung dagegen profitierten wirtschaftlich von dem neuen System, erhielten aber bei politischen Entscheidungen kein entsprechendes Gewicht. Diese Gemengelage zog die Konfliktlinien für das »Zeitalter der Revolutionen«: Zum einen stritten verschiedene Teile der wirtschaftlichen Eliten um Dominanz im politischen System (bisweilen klassifiziert als »Konservative« und »Liberale«), zum anderen kämpften diejenigen, die in jeder Hinsicht unter dem System litten, um eine ganz andere Ordnung.


Die Filter der Demokratie

Die politischen und ökonomischen Eliten befanden sich angesichts dieser explosiven Konflikte in einem Dilemma. Auf der einen Seite mussten sie revoltierenden Gruppen gewisse Zugeständnisse machen, wenn sie nicht riskieren wollten, dass die Situation außer Kontrolle geriet. Auf der anderen Seite aber mussten die Zugeständnisse in bestimmten Grenzen gehalten werden. Denn die Funktionsweise der Großen Maschine schließt echte Demokratie im Sinne von Selbstbestimmung und Selbstorganisation logisch aus: Unter den Bedingungen globaler Konkurrenz waren und sind Staaten und Wirtschaftsakteure dazu gezwungen, die Effizienz ihrer militärischen und ökonomischen Apparate ständig zu erhöhen. Und das setzt voraus, dass die Menschen sich den Zwecken dieser Apparate so weit wie möglich unterordnen. Die Option, nicht an diesem Spiel teilzunehmen, darf nicht zur Wahl stehen. Wenn sich Arbeiterbewegungen etwa grundsätzlich dem Prinzip der Lohnarbeit verweigerten, wie es bis tief ins 19. Jahrhundert immer wieder der Fall war, dann konnte dies ebensowenig geduldet werden wie das Infragestellen der Eigentumsordnung oder der Macht des metallurgischen Komplexes und des Militärs. Immer wenn Bewegungen solche systemrelevanten Institutionen attackierten, griffen Staaten auf massive physische Gewalt zurück, ganz gleich ob sie formal als Monarchie oder Demokratie galten, ob sie »konservativ«, »liberal« oder gar »sozialdemokratisch« geprägt waren. Die Grenzen der Demokratie in diesem System wurden und werden nicht allein von einzelnen mächtigen Interessengruppen gesetzt, sondern auch von der inneren, verselbstständigten Logik seiner Institutionen. Eine vollständige Demokratie, die nicht am Werks-, Kasernen- und Schultor halt macht, wäre gleichbedeutend mit der Auflösung des gesamten Funktionsgefüges der modernen Weltwirtschaft.

Aus diesem Grund muss die Geschichte der modernen Demokratien auch als eine Geschichte der Einschränkung der Demokratie geschrieben werden. Jede erkämpfte Freiheit wurde durch eine Reihe von Gegenmaßnahmen beantwortet, die darauf abzielten, auf anderer Ebene diese Freiheiten zu untergraben.4


USA 1787: Republik oder Demokratie? (Filter der Repräsentation)

Die Einhegung der Demokratie fängt bereits mit der Gründung der ersten modernen Republik an: den Vereinigten Staaten von Amerika. Die »Gründerväter« um George Washington, Thomas Jefferson und James Madison waren nicht nur damit beschäftigt, sich von der britischen Kolonialmacht zu befreien, sondern auch damit, egalitäre, basisdemokratische Aspirationen unter Kontrolle zu halten. 1786, ein Jahr vor Verabschiedung der amerikanischen Verfassung, hatte »Shays’ Rebellion« das politische Establishment erschüttert. Kleinbauern, die nach ihrem oft unbezahlten Kriegseinsatz gegen die Briten hochverschuldet auf ihr Land zurückkehrten, sahen sich mit Zwangsvollstreckungen und Schuldhaft konfrontiert. Gläubiger versuchten, Zins und Tilgung mit allen Mitteln zu erzwingen, um ihrerseits die Kriegsschulden bei den niederländischen Banken zu begleichen. Sie bestanden darauf, ihr Geld in Gold und Silber zu bekommen, das die Bauern nicht besaßen. Ein Bauer fasste die Situation so zusammen: »Die großen Männer bekommen alles, was wir haben, und ich denke, es ist Zeit, uns zu erheben und das zu beenden; wir wollen keine Gerichte mehr, keine Sheriffs, keine Steuereintreiber und keine Anwälte.« Die Bauern besetzten Gerichte und griffen schließlich zu den Waffen; nur mit großer Mühe konnte der Staat Massachusetts 3000 Mann zusammenziehen, um diese Bewegung niederzuschlagen. Angesichts solcher Erhebungen wurde unter den tonangebenden Großgrundbesitzern, Bankiers und Fabrikanten die Forderung lauter, einen großen einheitlichen Staat mit einem Stehenden Heer zu schaffen, um Aufständen effektiv begegnen zu können. Das Instrument dazu sollte eine neue Verfassung sein.5

James Madison, der »Vater der amerikanischen Verfassung« und vierte Präsident der USA, unterschied sehr deutlich zwischen democracy – in der er eine Brutstätte von Instabilität und Aufständen sah – und republic. Die Republik biete, so Madison im Jahr 1787, »die Kur« gegen die Übel der Demokratie. »Die zwei großen Unterschiede zwischen Demokratie und Republik sind: erstens, dass in der Republik die Regierung an eine kleine Anzahl von Bürgern delegiert wird, die vom Rest gewählt werden; zweitens, dass die Republik auf eine größere Anzahl von Bürgern und ein größeres Territorium ausgedehnt werden kann. Die Wirkung der ersten Differenz besteht darin, die öffentliche Meinung zu verfeinern und zu erweitern, indem sie durch das Medium eines ausgewählten Gremiums von Bürgern kanalisiert wird, deren Weisheit am besten die wahren Interessen ihres Landes erkennen kann.«6

Was Madison in elegante Worte kleidete, sprach John Jay, der erste Oberste Bundesrichter, sehr direkt aus: »Die Leute, die das Land besitzen, sollen es auch regieren.«7 Madison gehörte, ebenso wie Thomas Jefferson und George Washington, zu den reichsten Bürgern der USA. Alle drei waren Großgrundbesitzer und Sklavenhalter (wobei Washington seine Sklaven später in die Freiheit entließ). Madisons Vermögen entsprach, auf heutige Kaufkraft umgerechnet, etwa 100 Millionen US-Dollar, das von Jefferson – dem »Vater der Unabhängigkeitserklärung« – 250 Millionen, und George Washington, der erste US-Präsident, verfügte sogar über umgerechnet 500 Millionen Dollar.8 Es ist daher nicht überraschend, dass diese Männer ein politisches System schufen, das Entscheidungen auf einen möglichst kleinen Kreis von Leuten beschränkte, die »nicht in übertriebener Weise an die Wähler gebunden sind«, wie Madison es formulierte.

Diese Wähler waren selbst schon eine kleine, ausgewählte Gruppe. Frauen hatten kein Wahlrecht, ebensowenig Schwarze und amerikanische Ureinwohner (Native Americans); weiße Männer konnten nur wählen, wenn sie über ein Mindestvermögen verfügten. Nur etwa fünfzehn bis zwanzig Prozent der Erwachsenen hatten nach der Verfassung damit überhaupt ein Stimmrecht, aber auch sie waren aus Sicht der Gründerväter noch eine potenzielle Gefahr für die Systemstabilität und mussten deshalb zusätzlich durch den Filter der Repräsentation von politischen Entscheidungen ferngehalten werden.

Der Filter der Repräsentation entkoppelte den politischen Entscheidungsvorgang von der Willensbildung der Menschen. Er führte zwei getrennte Zeit- und Raumdimensionen in den politischen Entscheidungsprozess ein: die Zeit der Wahlen, die sich alle vier oder fünf Jahre wiederholen, und die Zeit der tatsächlichen Entscheidungen, die im Prinzip jederzeit gefällt werden können, ohne dass den Repräsentierten ein direkter Einfluss darauf möglich ist. Auf diese Weise wurde eine Schutzmauer zwischen den Raum der Entscheider und den Raum der »Öffentlichkeit« gezogen. Diese Schutzmauer war, wie Madison richtig erkannte, umso höher, je größer der Staat war. Denn mit zunehmender Größe des Territoriums nahm auch die Entfernung der Repräsentanten von ihren Wählern zu. Aus diesem Grund setzten sich die Gründerväter so massiv dafür ein, aus dem bisherigen Staatenbund einen großen Bundesstaat zu machen, mit einer mächtigen zentralen Regierung und einer starken Bundesarmee, die im Zweifelsfall einschreiten konnte, wenn es den Repräsentanten nicht hinreichend gelungen war, »die öffentliche Meinung zu verfeinern«.


Rastlose Glücksmaschinen

Doch während die Wirtschaft boomte, sah die menschliche Wirklichkeit darunter nicht immer so glorreich aus. 60 Millionen Menschen waren im Krieg getötet worden, mindestens noch einmal so viele schwer verletzt. Unzählige hatten um sich herum über Jahre massenhaften Tod, extreme Gewalt und Angst erlebt. In Deutschland diagnostizierte Hannah Arendt, die das Land 1950 bereiste, einen »blinden Zwang, dauernd beschäftigt zu sein, ein gieriges Verlangen, den ganzen Tag pausenlos an etwas zu hantieren«:

Diese Geschäftigkeit ist zu ihrer Hauptwaffe bei der Abwehr der Wirklichkeit geworden. Und man möchte aufschreien: Aber das ist doch alles nicht wirklich – wirklich sind die Ruinen; wirklich ist das vergangene Grauen; wirklich sind die Toten, die ihr vergessen habt. Doch die Angesprochenen sind lebende Gespenster, die man mit Worten, mit Argumenten, mit dem Blick menschlicher Augen und der Trauer menschlicher Herzen nicht mehr rühren kann.9

Sowohl in Europa als auch in den USA und in Japan wurde der Konsum von Psychopharmaka zu einem Massenphänomen; Phantasiediagnosen wie »vegetative Dystonie« und »Dystrophie«, die letztlich nichts anderes waren als Decknamen für posttraumatische Störungen, schossen aus dem Boden.

Auf eine perfide Weise kam die Orientierungslosigkeit und psychische Desorganisation der Menschen den Erfordernissen des Wirtschaftssystems entgegen. Der Zweite Weltkrieg hatte eine große Bandbreite technologischer Innovationen hervorgebracht, die darauf warteten, für eine zivile Massenproduktion genutzt zu werden, darunter die Kernenergie, den Düsenjet, den Transistor und den Computer.11 Zugleich wartete eine gewaltige Menge von Kapital, das nun nicht mehr für die Kriegswirtschaft gebraucht wurde, darauf, verwertet zu werden. Das Ergebnis dieser Konstellation war eine Welle exponentieller Produktionssteigerung, in deren Zentrum einmal mehr der metallurgische Komplex stand, insbesondere die Autoindustrie. Einer zu großen Teilen traumatisierten und orientierungslosen Gesellschaft wurde ein gigantisches Sedierungs- und Ablenkungsprogramm geboten, in dem winkende Mickymäuse in Cadillacs und die Rama-Frühstücksfrau eine Welt von betäubender Gedächtnislosigkeit schufen.

Die Automobilindustrie spielte in dieser Expansionsphase eine zentrale Rolle. Nüchtern betrachtet ist der automobile Individualverkehr im Vergleich zur Eisenbahn eine ausgesprochen irrationale Erfindung: Er verschlingt ein Vielfaches an Energie; enorme Flächen müssen für den Straßenbau versiegelt werden, die für Landwirtschaft, Wohnen, städtisches Leben und Natur nicht mehr zur Verfügung stehen; er tötet heute jedes Jahr allein durch Unfälle mehr als eine Million Menschen weltweit (mehr als in bewaffneten Konflikten sterben) und verletzt etwa 40 Millionen schwer12; und er führt in letzter Konsequenz in einen »rasenden Stillstand«, in einen Dauerstau, wie wir ihn von Shenzhen über Mumbai bis Los Angeles überall auf der Welt erleben. Doch selbst wo man nicht im Stau steht, kommt man mit dem Auto, wie der Kulturkritiker Ivan Illich einst errechnet hat, grundsätzlich nicht schneller als mit einem Fahrrad voran, wenn man die Zeit einberechnet, die nötig ist, um das Geld zu verdienen, das für den Kauf des Autos, für Benzin, Reparaturen, Steuern für den Straßenbau, Versicherungen und Strafzettel gebraucht wird.13 Trotz der Absurdität des automobilen Systems setzten nach dem Zweiten Weltkrieg praktisch alle Regierungen von Washington und Paris bis Moskau und Tokio auf eine Strategie des »tout voiture« (»alles Auto«), während zugleich (besonders in den USA) Auto- und Reifenhersteller systematisch die Zerstörung des öffentlichen Nahverkehrs betrieben.14 Das Auto wurde als Symbol von Freiheit und Unabhängigkeit vermarktet, als Inbild des American Dream.15 Der Grund dafür ist einfach: Mit der Einführung des automobilen Systems konnte man nun jedem einzelnen Bürger eine eigene Karosserie, ein eigenes Antriebssystem und wesentlich mehr Energie verkaufen. Zugleich stellten die öffentlichen Investitionen in das Straßennetz ein gewaltiges Konjunkturprogramm für die Bauwirtschaft dar, das ebenfalls erheblich zur Expansion der Großen Maschine beitrug.

Schon 1928 hatte US-Präsident Hoover vor einer Gruppe von PR-Fachleuten erklärt: »Sie haben den Job übernommen, Bedürfnisse zu schaffen und Menschen in rastlose Glücksmaschinen zu verwandeln, Maschinen, die zum Schlüssel für wirtschaftlichen Fortschritt geworden sind.«17 Der Konsumismus als Staatsreligion wurde ergänzt durch ein neues Zauberwort in der Politik: das Wirtschaftswachstum. Zwar war, seit das System der endlosen Kapitalakkumulation in der Frühen Neuzeit entstanden war, die permanente Ausdehnung der Geldwirtschaft – und nichts anderes bedeutet »Wirtschaftswachstum« – eine systemische Notwendigkeit. Aber erst in den 1930er- bis 1950er-Jahren wurde dieses Wachstum volkswirtschaftlich gemessen und nach dem Krieg offiziell zum obersten Staatsziel erhoben. Die Inthronisierung des Wachstums als zentrales Politikziel wurde damals von vielen Ökonomen und Politikern angegriffen. Joseph Schumpeter etwa hielt eine einzige Größe für den Wirtschaftsoutput für eine »Fiktion, die von Statistikern geschaffen wurde«, für »einen bedeutungslosen Datenhaufen«.18 In einer öffentlichen Rede fasste 1968 der US-Präsidentschaftskandidat Robert Kennedy, wenige Monate bevor er erschossen wurde, seine Kritik an der Wachstumsideologie so zusammen:

Das Bruttoinlandsprodukt beinhaltet Luftverschmutzung, Zigarettenwerbung und die Krankenwagen, die unsere Straßen von den täglichen Blutbädern reinigen müssen. Es beinhaltet die Sicherheitsschlösser an unseren Türen und die Gefängnisse für Menschen, die diese Schlösser brechen. Es beinhaltet die Zerstörung unserer Wälder und den Verlust der Wunder des Lebens durch eine chaotische Zersiedelung. Es beinhaltet Napalm, Atomwaffen und Panzerfahrzeuge für die Polizei, mit denen die Aufstände in unseren Städten bekämpft werden.
Dagegen berücksichtigt es weder die Gesundheit unserer Kinder noch die Qualität ihrer Ausbildung oder die Freude ihres Spiels. Es erfasst nicht die Schönheit unserer Dichtung oder die Intelligenz unserer öffentlichen Debatten, es misst weder unsere Weisheit noch unser Mitgefühl. Kurz: Es erfasst alles, nur nicht das, was das Leben lebenswert macht.
19

Doch aller Kritik zum Trotz setzte sich das BIP-Wachstum auf der ganzen Welt schließlich als wichtigster Indikator für Fortschritt und »Entwicklung« durch, nicht nur in der ökonomischen Zunft, sondern auch in der Politik bis hin zu internationalen Organisationen wie der OECD. Aus Sicht des Gemeinwohls war diese Wahl letztlich ebenso irrational wie die Einführung des automobilen Systems; in der Logik der Megamaschine, die expandieren muss, um zu existieren, war sie dagegen absolut folgerichtig.


Unabhängigkeitsbewegungen im Globalen Süden

Die Expansion des Systems stieß indessen in anderen Teilen der Welt auf erheblichen Widerstand. Seit Beginn des Jahrhunderts waren in vielen Ländern Afrikas und Asiens starke Antikolonialbewegungen entstanden, die unabhängige Staaten anstrebten und oft auch alternative wirtschaftliche Konzepte vertraten. Indien war eines der ersten Länder, dem der Schritt in die Unabhängigkeit gelang, und zwar auf einem bisher in der Geschichte noch nicht beschrittenen Weg. Mohandas »Mahatma« Gandhi hatte in Südafrika zu Beginn des 20. Jahrhunderts das Konzept des Satyagraha (»Festhalten an der Wahrheit«) entwickelt, das oft fälschlich als »passiver Widerstand« bezeichnet wird. Gandhi verstand das Prinzip der Gewaltlosigkeit nicht als einen Notbehelf aus einer Position der Schwäche, sondern als eine Waffe der Starken. Eine winzige Minderheit von britischen Kolonialherren könne über Indien nur herrschen, wenn die Inder in irgendeiner Form kooperierten. Gandhi schlug daher eine Strategie der aktiven Nicht-Kooperation vor, die ins Herz der Kolonialmaschine zielte. Es ging darum, die internationale Arbeitsteilung, die Indien zum billigen Rohstofflieferanten degradiert und die einst hochentwickelte Textilproduktion zerstört hatte, zu durchbrechen. Millionen von Indern boykottierten britische Produkte und Steuern und versuchten, die Tradition der dörflichen Selbstversorgung, die durch die erzwungene Marktintegration zerstört worden war, wiederzubeleben.

Die Strategien der Nicht-Kooperation und des zivilen Ungehorsams stellten die Briten vor vollkommen andere Herausforderungen als bewaffnete Erhebungen. 1930 etwa schoss die britische Armee mit Maschinengewehren auf eine Versammlung von gewaltlos protestierenden Muslimen in Peshawar, doch die Menschen verloren selbst im Kugelhagel nicht ihre innere Standfestigkeit: »Sobald die vorne Stehenden von den Schüssen verwundet zu Boden fielen, kamen die dahinter Stehenden nach vorn, wobei sie ihre Brust entblößten, um sich den Schüssen darzubieten.«20 Statt den Widerstand zu ersticken, fachten solche Massaker ihn nur noch weiter an. 1947 musste sich Großbritannien aus Indien zurückziehen. Die formale Unabhängigkeit war erreicht, doch damit war, wie wir noch sehen werden, der Kampf Gandhis und seiner Mitstreiter noch lange nicht gewonnen.

»Entwicklung« als innere Kolonisierung

Zwei Jahre nach der indischen Unabhängigkeit teilte Harry Truman in seiner Antrittsrede als Präsident der USA die Erde in zwei Sphären: die »entwickelten« Länder des Globalen Nordens und die »unterentwickelten« Länder des Südens, die der Norden mit seiner überlegenen Zivilisation »von ihrem Leiden befreien« müsse.21 Auf einen Schlag wurden zwei Milliarden Menschen samt ihren Kulturen für »unterentwickelt« erklärt. Die Zweiteilung der Menschheit in »Entwickelte« und »Unterentwickelte« ist unschwer als eine modernisierte Version älterer Begriffspaare wie »Christen« und »Heiden« oder »Zivilisierte« und »Wilde« zu erkennen, die allesamt dazu dienten, die Überlegenheit und den Missionsanspruch der westlichen Zivilisation zu begründen.

In Trumans Logik hat die Geschichte eine einzige Dimension: Die gesamte Menschheit strebt auf einer Geraden dem Ziel der westlichen Industriegesellschaft zu, das in den USA seine perfekte Verwirklichung gefunden hatte. Alles andere ist Stillstand oder Rückschritt, kurz: »Unterentwicklung«. Kulturen und soziale Organisationsformen, die sich nicht auf dieser Geraden unterbringen lassen, müssen, so die Konsequenzen dieser Logik, aus dem Weg geräumt werden. Exemplarisch beschrieb dies der südafrikanische Historiker Jan L. Sadie 1961 so:

Die ökonomische Entwicklung eines unterentwickelten Volkes ist unvereinbar mit der Aufrechterhaltung der traditionellen Gebräuche und Sitten. Ein Bruch mit letzteren ist eine Vorbedingung des wirtschaftlichen Fortschritts. Was Not tut, ist eine vollständige Umwälzung der sozialen, kulturellen und religiösen Institutionen und Gewohnheiten, der psychologischen Haltung, der Philosophie und der Lebensweise. Was also erfordert wird, kommt in Wirklichkeit einer sozialen Desorganisation gleich. Unglück und Unzufriedenheit in dem Sinn, dass man mehr wünscht als zu jedem gegebenen Zeitpunkt verfügbar ist, muss hervorgerufen werden. Das Leiden und die Entwurzelung, die dabei verursacht werden, mögen anstößig sein, aber das scheint der Preis zu sein, der für ökonomische Entwicklung zu zahlen ist.22

Die Idee von »Entwicklung« hat die Gedankenwelt ganzer Generationen von Politikern, Ökonomen und Sozialplanern dominiert, gleich ob sie sozialistisch oder kapitalistisch inspiriert waren.23 Und das nicht nur in der unmittelbaren Einflusssphäre des Westens, sondern auch in Ländern wie Indien und China, die ursprünglich einen eigenen Weg zu gehen versprachen. In Indien setzte sich nach Gandhis Ermordung (1948) Jawaharlal Nehrus Vorstellung einer großtechnischen, zentralstaatlichen Entwicklung durch, die Gandhis Ideen vollkommen entgegengesetzt war. Gandhi ging es um einen Ausstieg aus der Logik der Großen Maschine; die zentralen Säulen seiner politischen Philosophie waren: swaraj (Selbstverwaltung), swadeshi (lokale Ökonomie) und sarvodaya (die Verbesserung der Lebensbedingungen für alle). Nehru dagegen setzte darauf, das westliche Industrialisierungsmodell nachzuahmen. Die Opfer dieser Strategie waren enorm. Allein für gigantische Staudammprojekte wurden, so schätzt die indische Autorin Arundhati Roy, seit den 1950er-Jahren mehr als 50 Millionen Menschen zwangsumgesiedelt, von denen die meisten in den Slums der expandierenden Großstädte landeten.24 Der größte Teil von ihnen gehörte zu den Adivasi, den »ersten Menschen«, die in entlegenen Berg- und Waldregionen lebten. Bis heute sind Millionen von Adivasi Opfer von Vertreibungen im Namen von »Entwicklung«, insbesondere durch Staudämme und Bergbau. Der enorme Reichtum ihrer Kulturen droht inzwischen endgültig ausgelöscht zu werden.


»Entwicklung« als Fata Morgana

»Entwicklung« erwies sich in der Praxis als eine Art moderner Opferkult: Ein Teil der Bevölkerung samt ihren Kulturen musste geopfert werden, um der Nation den Weg zum Fortschritt zu ebnen. Die bittere Ironie dieser Geschichte besteht allerdings darin, dass sich das Ziel dieser Opfer – der »Fortschritt« – für die meisten Länder als Fata Morgana entpuppte. Die Opfer wurden gebracht, aber die Entwicklung fand nicht statt. Denn wo immer sich Regierungen im Globalen Süden ernsthaft auf den Weg machten, um eine eigenständige Entwicklung – selbst wenn sie auf der engen Trumanschen Geraden lag – zu verwirklichen, wurden sie vom Westen mit allen Mitteln bekämpft, sei es durch gewaltsame Umstürze von Regierungen, sei es durch die strukturelle Gewalt der Schulden. Das Konzept von »Entwicklung« wurde damit zu einer typischen »Double-bind«-Falle: Es verengte die politische Imagination auf ein einziges Ziel – den Westen zu kopieren –, aber genau dieses Ziel sollte für die meisten Länder unerreichbar bleiben.27

»Der alte Imperialismus, die Ausbeutung für fremde Profite, hat in unseren Plänen«, so hatte Truman in seiner Rede von 1949 versprochen, »keinen Platz. Was wir anstreben ist ein Programm von Entwicklung, das auf demokratischem, fairem Handel beruht.« Doch während Politiker wie Truman unablässig solche Versprechungen machten, arbeiteten andere Teile ihrer Regierungsapparate mit Hochdruck daran, echte Demokratie und Entwicklung im Globalen Süden zu verhindern. Eine entscheidende Rolle spielten dabei die modernen Nachrichtendienste, die im Zweiten Weltkrieg als paramilitärische Apparate mit Zehntausenden von Mitarbeitern im Schatten der offiziellen Armeen geschaffen worden waren. Eine Liste der von ihnen initiierten gewaltsamen Umstürze, angefangen beim Putsch gegen die demokratisch gewählte iranische Regierung unter Mohammad Mossadegh im Jahr 1953, würde viele Seiten füllen;28 daher müssen hier wenige Beispiele genügen.

In den frühen 1950er-Jahren setzte sich die demokratisch gewählte Regierung von Guatemala zum Ziel, den zentralamerikanischen Staat »von einem rückständigen Land mit vorherrschend feudalistischer Wirtschaft in einen modernen kapitalistischen Staat« umzuwandeln, wie es Präsident Jacobo Arbenz Guzmán damals ausdrückte.29 So systemkonform dieses Ziel auch klang, so wenig war es für die USA akzeptabel, denn es bedeutete, dass die United Fruit Company (heute Chiquita) entmachtet würde, die bis dahin Guatemala als »Bananenrepublik« kontrolliert hatte. Die Company engagierte daraufhin keinen Geringeren als Edward Bernays, um eine Kampagne ins Leben zu rufen, die Arbenz als verkappten Stalinisten darstellte, der eine kommunistische Diktatur errichten wolle. 1954 putschte die CIA Arbenz aus dem Amt und installierte eine Marionettenregierung, ein Ereignis, das, orchestriert von Bernays Propagandamaschine, in praktisch allen westlichen Medien als Sieg der Demokratie gefeiert wurde. Für die nächsten 30 Jahre herrschten in Guatemala diverse Militärregimes, die die sozialen Reformen von Arbenz rückgängig machten und einen brutalen Krieg gegen die Opposition mit mehr als Zweihunderttausend Todesopfern führten.30

1960 hatten die Unabhängigkeitsbestrebungen im Kongo dafür gesorgt, dass die Belgier das Land, das sie fast einhundert Jahre lang verwüstet hatten, endlich verließen. Die ersten freien Wahlen brachten Patrice Lumumba an die Macht, der, ähnlich wie Arbenz und Mossadegh, eine eigenständige industrielle Entwicklung des Kongo anstrebte und dafür sogar Rat in den USA suchte. Doch für die westlichen Bergbaugesellschaften hätte dies das Ende ihres Geschäftsmodells bedeutet. Wie ehemalige belgische und US-amerikanische Geheimdienstmitarbeiter heute freimütig erzählen, stifteten sie General Mobutu dazu an, Lumumba zunächst unter Hausarrest zu setzen und später zu ermorden.31 Der Auftrag dazu kam, wie 2011 freigebene CIA-Dokumente zeigen und wie das US-Außenministerium inzwischen bestätigt hat, direkt von Präsident Eisenhower.32 Die UN-Mission vor Ort und die internationale Presse schauten tatenlos zu, wie Lumumba auf dem Flughafen von Léopoldville vom Militär misshandelt und anschließend in ein Flugzeug verfrachtet wurde, dass ihn zum Ort seiner Ermordung bringen sollte. Das Terrorregime von Mobutu, das in den folgenden Jahren an die Macht kam und das Land bis 1997 ausplünderte, wurde von allen westlichen Regierungen anerkannt und aktiv unterstützt. Das Ergebnis ist ein bis heute weitgehend verwüstetes Land, das von Bürgerkriegen und extremer Armut geprägt ist.

Zu einem regelrechten Völkermord geriet der Sturz des Präsidenten Sukarno in Indonesien, der als einer der Wortführer der Blockfreien-Bewegung ebenfalls eine eigenständige Entwicklung anstrebte, die sowohl vom Westen als auch von der Sowjetunion unabhängig sein sollte. Wie vor einigen Jahren freigegebene Dokumente belegen, hatte die CIA auf höchster Ebene Anweisungen bekommen, »Sukarno zu liquidieren«.33 Der Mann, auf den die Amerikaner zu diesem Zwecke setzten, war General Suharto. Mithilfe einer von der CIA erstellten Liste führender Linker des Landes sowie amerikanischer Waffen schickte Suharto 1965 Todesschwadronen aus, um mehrere Tausend Menschen zu ermorden. Die Erfolge der Aktion wurden regelmäßig der US-Botschaft in Jakarta übermittelt, die CIA führte sorgsam Buch über den Fortschritt der Morde. Suharto ging aber noch weiter, er rekrutierte Zehntausende von jungen Männern, die im Schnellverfahren zu Totschlägern ausgebildet und losgeschickt wurden, »um das Land von Kommunisten zu säubern«. Mit Macheten, Keulen und Pistolen bewaffnet folterten und ermordeten sie innerhalb weniger Monate fast eine Million Menschen.34 Allein auf der kleinen Insel Bali, die heute als Südseeparadies vermarktet wird, wurden um die 100.000 Menschen ermordet – acht Prozent der damaligen Bevölkerung auf der Insel.35 Reisende berichteten von Flüssen, die buchstäblich von Leichen verstopft waren und den Transport zu Wasser unmöglich machten. Das Ergebnis war eine Schockstarre des Landes und eine beispiellose Verängstigung der Bevölkerung. In dieser Situation stellten, sobald Suharto die Macht übernommen hatte, die Ökonomen der sogenannten »Berkeley-Mafia« – Indonesier, die in den USA studiert hatten und von der Ford-Foundation gefördert wurden – die bisherige Wirtschaftspolitik auf den Kopf und öffneten das Tor für westliches Kapital. Nach nur zwei Jahren waren praktisch alle natürlichen Reichtümer des Landes, vor allem Erdöl, Kupfer, Holz und Gummi, unter transnationalen Unternehmen aufgeteilt.36

Auf diese Weise wurden in einem Land nach dem anderen die Hoffnungen auf eine eigenständige Entwicklung zerschlagen und die zwischen 1955 und 1961 entstandene Bewegung der Blockfreien entscheidend geschwächt.