Überzeugung
Wir waren hoch oben in den Bergen, und es herrschte
große Trockenheit. Viele Monate hatte es nicht mehr geregnet, alle
kleineren Bäche waren versiegt. Die Nadeln der Tannen färbten sich
braun, einige waren schon ganz abgestorben, nur der Wind rauschte noch
durch ihr dürres Gezweig. Das Bergland erstreckte sich Falte um Falte
bis weit hinaus an den Horizont. Das meiste Wild war schon nach
kühleren, fetteren Äsgründen abgewandert, nur Eichhörnchen und ein paar
Eichelhäher waren zurückgeblieben. Wohl gab es noch andere, kleinere
Vögel, aber sie schwiegen in der Hitze des Tages. Eine dürre Tanne war
von der Sonne in vielen Sommern schneeweiß gebleicht, sie war noch im
Tode wunderschön, schlank, voller Kraft und ohne allen Makel
menschlichen Gefühls. Die Erde war hart, die Pfade waren steinig und
staubig.
Sie sagte, sie hätte schon verschiedenen religiösen
Gesellschaften angehört, sei aber erst der letzten treu geblieben. Für
diese habe sie fast überall in der Welt durch Vorträge und Werbung
gearbeitet. Um ihrer Gemeinschaft besser dienen zu können, habe sie ihr
Familienleben aufgegeben, ihre Häuslichkeit und vieles andere Wertvolle
geopfert. Sie habe sich den Glauben, die Lehre und die Vorschriften
ihrer Gemeinschaft zu eigen gemacht, sei den Anweisungen der führenden
Männer gewissenhaft nachgekommen und habe sich vor allem mit Ausdauer in
Meditation versucht. Bei den Mitgliedern ihrer Gemeinschaft sowohl wie
bei deren Leitern habe sie in hohem Ansehen gestanden. Jetzt, fuhr sie
fort, nachdem sie gehört hätte, was ich über Glaubensrichtungen,
religiöse Gemeinschaften, die Gefahr der Selbsttäuschung und ähnliche
Dinge sage, habe sie sich von ihrer Gruppe und deren Bestrebungen
zurückgezogen. Seitdem sei ihr das Heil der Menschheit gleichgültig
geworden, ihre kleine Familie und deren Sorgen füllten sie nun
vollkommen aus, und die Wirrnisse des Weltgeschehens interessierten sie
nur noch am Rande. Bei aller äußeren Güte und Großzügigkeit neigte sie
zu bitteren Gefühlen, denn sie meinte, ihr Leben sei doch im Grunde
verpfuscht. Was habe sie mit all ihrer Begeisterung und ihrer ganzen
Arbeit am Ende erreicht? Sei ihr Schicksal nicht tief zu beklagen? Warum
sei sie jetzt auf einmal so stumpf und müde und befasse sich nur noch
mit kleinlichen Dingen, obwohl sie doch noch im besten Alter stehe?
Wie leicht zerstören wir die zarten Gefühlskräfte
unseres Wesens! Das ewige Streben und Kämpfen, die immer neuen Ängste
und Ausflüchte stumpfen Geist und Herz vorzeitig ab. Aber der gewitzte
Verstand findet bald Ersatz für die verlorene Lebendigkeit des Gefühls.
Unterhaltungen, Familie, Politik, Überzeugungen und Götter treten an den
Platz der Einsicht und der Liebe.
Einsicht geht durch Wissen und Überzeugungen
verloren, Liebe durch Sinnenreiz.
Oder ließe sich etwa aus Überzeugungen
Einsicht gewinnen?
Gibt es ein Innewerden, solange wir uns hinter den
Mauern eines unerschütterlichen Glaubens verschanzen?
Was nutzen uns
überhaupt Überzeugungen?
Verdunkeln sie nicht den ohnedies überlasteten
Verstand?
Das Innewerden dessen, was ist, verlangt keine Überzeugung,
sondern unmittelbare Wahrnehmung, ein Aufgeschlossensein, bei dem kein
Wunsch und keine Sehnsucht im Spiele ist. Wünsche und Sehnsüchte stiften
Verwirrung, und unsere Überzeugungen sind nur die Ausgeburten unserer
Wünsche. Diese Wünsche streben auf geheimnisvollen Schleichwegen zum
Ziel; solange wir ihrer Schliche nicht innewerden, stiftet jede
Überzeugung noch mehr Spannung, Wirrnis und Widerstreit. Ein anderer
Name für Überzeugung ist Glaube, und siehe da, auch er ist nur ein
Zufluchtsort für unser unerfülltes Verlangen.
Unsere Überzeugung drängt uns zum Handeln. Sie gibt
uns jene besondere Kraft, die aus dem Ausschluss allen Zweifels
erwächst, und da die meisten von uns Menschen Handelnde sind, wird
Überzeugung zur Notwendigkeit. Wir fühlen, dass wir ohne Überzeugung
nicht wirklich tätig werden können, da sie uns erst das Ziel vorstellt,
für das es zu leben und zu arbeiten lohnt. Für die meisten hat das Leben
nur die Bedeutung, die sie aus ihrer Überzeugung gewinnen, die
Überzeugung ist also wichtiger als das Leben selbst. Wir meinen, das
Leben müsse so gelebt werden, dass es in die Schablone der Überzeugung
passt, denn irgendein Schema, eine Norm muss doch wohl sein, wenn
gehandelt werden soll. Unser Handeln beruht also immer auf einer
ursprünglichen Idee oder ist deren Ergebnis, darum ist auch die Idee als
das Primäre wichtiger als das Handeln selbst.
Ist aber der Verstand, so scharf und raffiniert er
auch denken mag, wirklich imstande, jene totale Wirkung hervorzubringen,
die eine grundstürzende Umwandlung unseres Wesens und damit der
sozialen Ordnung zur Folge hätte? Kann die Idee, der Gedanke, überhaupt
wirken?
Gewiss, fruchtbare Ideen schaffen oft nachhaltige Bewegungen,
sie liefern den Stoff zum Schaffen und Werken – aber dieses Werken ist
etwas grundsätzlich anderes als Wirken. Rastloses Werken füllt unser
Leben aus; wenn aus irgendeinem Grunde einmal damit Schluss gemacht
werden muss, dann fühlen wir uns ganz verloren, das Leben ist
inhaltsleer und sinnlos geworden. Wir alle wissen um die gefürchtete
Leere, die hinter unserer Lebensart lauert, zum mindesten ahnen wir
etwas davon, und darum stehen Idee und Arbeit unter uns Menschen so hoch
im Kurs. Überzeugungen geben dem Leben den gewünschten Inhalt, und
Arbeit wird uns zum unentbehrlichen Rauschgift. Ihr zuliebe nehmen wir
jede Entbehrung und jeden Nachteil in Kauf, machen wir uns jede Illusion
zu eigen. Alles Handeln aus ideologischer Überzeugung führt zu
Unordnung und Zerfall. Obwohl es nur der Ordnung und dem Aufbau zu
dienen scheint, hinterlässt es ein Meer von Zwietracht, Leid und Elend.
Jede Art von Überzeugung, sei sie religiöser oder politischer Art,
sondert nämlich die Menschen voneinander ab und verhindert, dass wir der
Liebe innewerden, die uns mit dem Bruder Mensch verbindet. Ohne dieses
Innewerden gibt es kein wahres Wirken.